Ich schrak von meinem Schlaf hoch und da es noch stockfinster war, wagte ich einen raschen Blick auf meinen Wecker. Dieser zeigte mir, dass es erst drei Uhr in der Früh war, und ich eigentlich schlafen sollte. Doch ich verstand nicht, warum ich in letzter Zeit immer so seltsame Träume hatte. Eigentlich wachte ich nie auf, wenn ich schlecht träumte, zumindest konnte ich mich früher nie an meine Träume erinnern. In letzter Zeit jedoch, konnte ich mich an so gut wie jeden Traum erinnern und es handelte sich immer um dasselbe. Zumindest meistens. Denn heute war es anders; ich hatte von einem jungen Mann geträumt, welchem elendiges Leid zugefügt wurde. Ich konnte nicht sagen, woher dieser Schmerz kam, doch ich konnte sehen, ja sogar nahezu spüren, wie es sich für ihn anfühlen musste. Deswegen war ich wohl auch aufgewacht, und mein Herz hämmerte weiterhin wild gegen meinen Brustkorb, welcher sich viel zu schnell auf und ab bewegte. Meine Träume fühlten sich in letzter Zeit einfach viel zu real an, und wenn dies so weiterging, dann würde ich irgendwann noch verrückt werden. Schlimm genug, dass es mir zum ersten Mal in Annas Gegenwart passiert war, jetzt musste es auch noch in Irland weitergehen. Ich wollte nicht, dass sich die Familie O'Kelley auch noch Sorgen um mich machte.
Beim ersten Mal, als es passierte, träumte ich von den Schwänen. Sie waren voller Trauer und ebenfalls voller Schmerz. Als der Traum geendet hatte, wachte ich schreiend auf und fand mich neben Anna auf dem Sofa wieder. Sie hatte solche Angst um mich gehabt, denn ich hatte noch nie in meinem Leben so laut neben Anna geschrien. Es schien fast so, als hätte ich aus der Seele schreien müssen, doch aus irgendeinem Grund hatte sich mein Gekreische gut angefühlt und ich hatte mich erlöst gefühlt. Aber als ich Annas erschrockenes Gesicht gesehen hatte, wusste ich, ich durfte Anna nie wieder so einen Schrecken einjagen. Und immer wenn ich nun so einen Traum gehabt hatte, hatte ich versucht in mein Kissen zu kreischen. Bis ich mich langsam daran gewöhnt hatte und gänzlich aufgehört hatte nach meinen schrägen Träumen meine Stimme zu entleeren.
Da ich gerade sowieso nichts anderes zu tun hatte, als mich von einer Seite zur anderen zu wälzen, stand ich auf und stellte mich ans Fenster. Diesen Ausblick hatte ich heute schon einmal genossen; bei Nacht sah er sogar noch Angst einflößender aus. Er, der Wald. Er war so groß und lang und ich konnte sein Ende nicht sehen. Früher, als ich klein war, ging ich mit meinem Vater oft im Wald spazieren. Da hatte er mir immer Geschichten erzählt und von der Natur geschwärmt. Ihm würde dieser Wald, welcher sich vor meinen Augen erstreckte, sicherlich gefallen. Auch wenn er immer eine dezente Abneigung gegen Irland hatte. Ich hatte ja keine Ahnung, dass diese Abneigung so stark sein würde, dass mich meine Eltern nicht mit auf Klassenfahrt nach Irland fahren ließen. An diese Zeit konnte ich mich noch gut erinnern. Ich war so sauer, denn ich konnte nicht verstehen, warum ich nicht mit meinen Freundinnen, mit meiner ganzen Klasse, mit durfte. Angst, dass mein Flieger abstützen würde, konnten sie nicht haben, denn wir flogen oft in den Urlaub. Jedoch immer in Länder, die ich schwer ausstehen konnte. Unser erster Urlaub war in Griechenland, unser zweiter Urlaub fand in Spanien statt und unser dritter und letzter gemeinsamer Urlaub war in Italien. Die einzige Ausrede ihrerseits war also, dass sie meinten ich würde in Irland nichts lernen. Sie hatten dieselbe Muttersprache wie ich – Englisch – aber die Kultur war eine andere. Ich stritt mich mit meinen Eltern, wie noch nie zuvor. Heute bereute ich es. Denn zwei Wochen später waren sie tot.
Solche Erinnerungen ließen mich immer depressiv werden, deswegen starrte ich einfach weiterhin ausdruckslos aus meinem Fenster. Ich konnte den Waldrand erkennen, und glaubte fast, dass ich etwas Aufleuchten gesehen hatte. Doch ich musste mich getäuscht haben, oder? Meine Augen verengten sich und mein Blick hing angespannt an dieser Stelle. In dem Moment als ich mich wieder zu meinem Bett drehen wollte und versuchen wollte erneut einzuschlafen, sah ich es wieder. Mein Herz setzte für einige Sekunden aus. Das konnte nicht wahr sein? Ich musste mich verschaut haben, so musste es sein. Ich war müde und der heutige Tag war sehr anstrengend für mich gewesen, ich halluzinierte wahrscheinlich schon. Denn was ich da am Waldrand gesehen hatte, konnte unmöglich wahr sein. Ich musste mich verschaut haben. Ich konnte unmöglich einen Wolf gesichtet haben. Unmöglich. In Irland gab es doch gar keine Wölfe, ganz bestimmt nicht. Meine Vormünder hätten das doch irgendwie erwähnt, falls dem so sei. Dem war ich mir sicher. Es gab keine Wölfe in Irland. Mein verwirrter Verstand spielte mir nur etwas vor.
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Schwanenblut
FantasySeitdem Selene in Irland angekommen ist, wird sie nicht nur von mysteriösen Träumen geplagt, sondern auch noch entführt! Als wäre das nicht schon schlimm genug, stellt sich auch noch heraus, dass sie ein großes Geheimnis in sich trägt, von welchem s...