Kapitel 4.1

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Am nächsten Morgen war es so weit. Lucas sprang abermals in aller Herrgottsfrühe auf mein Bett und rüttelte mich wach. Ich wagte einen Blick auf meinen Wecker und seufzte als ich die Uhrzeit ablas. Es war kurz nach halb acht. Es schien fast so, als wären die O'Kelleys Frühaufsteher. Mit diesem Gedanken musste ich mich aber erst einmal anfreunden, denn für gewöhnlich liebte ich es lange und ausgiebig zu schlafen, weswegen ich gestern auch schon um neun in meinem Zimmer verschwunden war.

„Selene! Du musst aufstehen, das Frühstück ist gleich fertig und dann wollen wir schon los!", versuchte es der kleine Mann erneut, als er mitbekommen hatte, dass die erste Taktik mit dem Wachrütteln nicht wirklich funktioniert hatte.

„Ja, ich steh schon auf.", gab ich von mir, während ich das Ja in die Länge zog. Ich setzte mich im Bett auf und beschloss in diesem Moment, dass ich bei meiner Gastfamilie ganz bestimmt nie ohne BH schlafen würde. Denn wenn das so weiter ging, dann würde Lucas wohl fast jeden Tag zu mir reinstürmen und da wollte ich ihm ganz bestimmt keinen Schrecken seines Lebens einjagen.

Ich gähnte noch einmal herzhaft, bevor mich Lucas an den Händen packte und versuchte mich aus dem Bett zu zerren. „Komm schon, du musst ins Bad und dich fertig machen." Da erschien James im Türrahmen und sagte mit einem väterlichen Unterton, dass er mich in Ruhe lassen solle und dass ich ohnehin gleich ins Esszimmer kommen würde. Aber ich bräuchte am Morgen auch meine Ruhe.

Ich musste lächeln. James war so etwas wie ein zweiter Vater für Lucas und ich stellte mir vor, dass James den Jungen wahrscheinlich schon von Geburt her kannte. Als ich James im Türrahmen stehen sah, musste ich mir ein weiteres Mal ins Gedächtnis rufen, niemals in diesem Haus ohne BH schlafen zu gehen.

Als die Beiden aus meinem Zimmer verschwunden waren, suchte ich mir hastig ein paar Klamotten zusammen, die ich mir dann anziehen wollte, ging ins Badezimmer und gönnte mir erstmal eine warme Morgendusche.

Nachdem ich meine Morgenroutine vollendet hatte, eilte ich die Stufen hinunter und stieß mit einem fröhlichen „Guten Morgen" in das Esszimmer. Dort wurde ich natürlich sofort herzhaft von Megan begrüßt, wobei ich von Leon weiterhin nicht angeschaut wurde.

Nachdem wir mit dem Frühstück fertig waren, waren wir alle startklar, doch als wir beim Wagen waren, fiel mir auf, dass Michael nicht mit war. „Sollten wir nicht auch auf Mr. O'Kelley warten?", wollte ich von Megan wissen, doch diese schüttelte den Kopf.

„Er hat heute keine Zeit.", sie lächelte und zuckte mit den Schultern. „Aber das macht nichts, dann machen wir uns eben einen schönen Tag. Du wirst sehen, die Cliffs of Moher werden dich so sehr beeindrucken, dass du am liebsten nicht mehr von dort fort möchtest."

„Das hoffe ich doch.", war meine begeisterte Antwort, als ich in das Auto stieg.

Während der gesamten Fahrt war es von einigen Seiten her ziemlich still, und auf anderen Seiten wurde wiederum viel geredet. Leon schaute die ganze Zeit aus dem Fenster, Megan unterhielt sich manchmal leise mit James, Hanna versuchte immer eine Konversation mit mir aufzubauen und ich stieg immer darauf ein, denn ich mochte dieses Mädchen. Und Lucas war so ziemlich der einzige der die ganze Fahrt über quasselte. Auch wenn es nur belanglose Dinge waren. Wenn er etwas interessant fand, dann hatte er schon wieder seinen Mund offen.

Nach gut einer Stunde kamen wir beim Parkplatz an und stiegen aus dem Wagen. Eigentlich hatte ich mir vorgestellt hier alleine unter wenigen Leuten zu sein, doch das konnte ich mir abschminken. Unzählbar viele Busse standen auf dem Parkplatz und Menschen drängelten umher. Als wir unsere Tickets hatten und uns auf den Weg zu den Klippen machten, nahm Hanna meine rechte Hand und schaute glücklich zu mir hoch, als ich ihre zarten kleinen Finger in meine Hand aufnahm. Lucas vergnügte sich mit James, der mir tatsächlich immer mehr wie ein Vater von Lucas vorkam und Leon trottete neben seiner Mutter her. Sein Gesichtsausdruck war eher gelangweilt und er schien sich nicht wirklich über diesen Ausflug zu freuen.

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