Kapitel 13.2

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Er musste sich eingestehen, dass er sie mochte. Auf eine gewisse Art und Weise zog sie ihn an. Nun aber trug er sie in seinen Armen zu dem Bauernhaus, wo er hoffte, dass jemand darin lebte. Wenn nicht, dann würden sie eben einfach die Nacht darin verbringen.

Er hätte strenger und gemeiner zu ihr sein können, als er sie im Gras liegend vorgefunden hatte. Doch als er den Ausdruck in ihren Augen bemerkte ... Dieser ging ihm einfach nicht aus dem Sinn. Hatte er sie schon jemals verletzt, sodass sie glauben musste, er würde sie schlagen? Für einige Atemzüge hatte er ihre blanke Angst gesehen, bis sie sich wieder zusammengekauert hatte. Doch wie hätte er ihr jemals etwas antun können? Sie war viel zu gutmütig und ehrlich, um ihr weh zu tun. Niemand sollte sie je verletzen.

Colin schaute auf ihren viel zu schlanken Körper hinab. Natürlich hatte sie ein Gewicht, welches es ihm manchmal mühvoller machte sie zu tragen. Doch genaugenommen war sie gar nicht schwer. Im Gegensatz zu seiner Schwester Freya hatte sie das Gewicht einer Fliege, wobei Freya nicht dickleibig oder rundlich war. Ganz im Gegenteil.

Er erreichte den Platz, an dem ihr abermals Federn gewachsen waren. Schon wieder war sie damit alleine gewesen und schon langsam hasste er dies. Ihm wurden zwar fortwährend die Knochen gebrochen, doch er sah dabei kein Blut. Blut war für ihn nichts Unbekanntes, ebenso wenig empfand er es als ekelhaft. Selene jedoch schien auch nur bei dem kleinsten Anblick des Blutes hysterisch zu werden.

Er stieß zum Waldrand. Zu seinem Glück sah er, dass das Bauernhaus von einem Licht erhellt wurde und steuerte direkt darauf zu. Colin spürte, wie Selene in seinen Armen immer gewichtiger wurde. Das lag nicht an ihr, sondern an ihm. Immerhin war er mindestens genauso lange auf den Beinen wie Selene, wobei er sie auch noch finden hatte müssen. In dem Moment fiel ihm ein, dass er ganz vergessen hatte, Kacper davon zu berichten. Doch dies konnte er auch später machen, wenn sie beide das Bauernhaus erreichten.

Das Gebäude sah sehr alt und gebrechlich aus. Wilder Efeu wuchs entlang der Wand empor. Der Garten war verwuchert und es schien so als kümmerte sich niemand mehr um dieses Haus. Tiere hörte Colin kein einziges. Vielleicht lebte in diesem Haus ein alter Opa, der seine Frau schon lange verloren hatte. Colin wollte sich gar nicht vorstellen, wie es sein musste, einen geliebten Menschen für immer zu verlieren. Doch was hieß für immer? Bestimmt gab es einen Ort, an welchem die Seelen der Geliebten wieder zueinander finden konnten. So musste es sein, denn ansonsten war das gesamte Leben sinnlos.

Mit Selene in den Armen läutete Colin an. Es dauerte lange, bis sich die Holztür mit einem Knarren öffnete. Ein älterer Mann stand den beiden gegenüber.

„Wer seid ihr und was wollt ihr hier?", war das erste was er von sich gab, ohne jegliche Begrüßung.

„Guten Tag. Mein Name ist Colin und das ist Selene. Ich wollte Sie nur darum bitten, ein Taxi herzubestellen, damit ich mit meiner ... ähm Freundin zurück ins Hotel fahren kann."

„Was haben Sie denn da draußen getrieben? Da treibt sich nie jemand rum! Das machen nur Verrückte!"

„Wir wollten nur den Wald erkunden. Wären Sie so freundlich, uns ein Taxi zu rufen? Bitte?"

„Für Fremde rufe ich kein Taxi!" Selene, du kannst dich glücklich schätzen, nicht alleine hier raufgekommen zu sein. Alter Fiesling!

„Dann sagen Sie mir bitte wo wir uns befinden. Um welche Straße handelt es sich hier?"

„Man sollte sich besser erkundigen, wenn man in unbekanntes Territorium gerät!"

„Im Nachhinein ist man immer klüger." Colin lächelte schief, gerade als der Alte die Tür zuschlagen wollte. Doch plötzlich kam noch eine dritte Stimme zum Vorschein.

„Peter! Was ist denn hier los?" Eine ältere Frau rollte mit ihrem Rollstuhl neben die Tür und betrachtete Colin und das Mädchen in seinen Armen. „Ach du meine Güte! Junge, du siehst vollkommen erschöpft aus. Komm doch rein und leg das Mädchen auf die Couch. Mein Mann wird schauen, ob wir frische Kleider für das Mädchen haben. Ist sie hingefallen? Sie sieht schrecklich aus!"

„Vielen Dank." Colin überlegte nicht lange, sondern trat einfach ein. Der alte Mann protestierte leise vor sich hin, ehe er in einem Zimmer verschwand. Wahrscheinlich ging er der Bitte seiner Frau nach und suchte nach Klamotten für Selene.

„Was ist mir ihr passiert?", wollte die Alte wissen, als Colin sie auf das Sofa legte. Zuvor jedoch breitete er eine Decke über der Couch aus, sodass diese durch Selene nicht verdreckt wurde. Immerhin gab es in diesem Haushalt einen Mann, der es ganz und gar nicht toll fand so spät noch Besuch zu bekommen.

„Wir haben uns im Wald verlaufen, als es plötzlich anfing zu regnen. Wir wussten nicht mehr, wie wir wieder hinausfinden konnten, als wir Ihr Licht sahen. Und ja, meine Freundin ist ausgerutscht. Sie ist von unserer Wanderung schon so erschöpft, dass ich sie tragen musste. Ich bitte Sie, könnten Sie uns ein Taxi herbestellen?"

„Das arme Ding.", meinte die Frau kopfschüttelnd als sie Selene an der Wange berührte. „Bitte duze mich doch, ich bin zwar alt, aber kein Grieskram wie mein Mann." Ein Lächeln breitete sich über ihrem Gesicht aus. „Es tut mir leid, dass euch Peter so unfreundlich begrüßt hat. Und natürlich bestelle ich euch ein Taxi, doch ihr müsst euch gedulden, es kann einige Zeit dauern bis ein Fahrzeug den Weg zu unserer Einfahrt findet."

Der alte Mann kam mit hinkendem Fuß zurück und reichte Colin lange Jeans mit einem roten T-Shirt für Selene. Als der Mann mit seiner Frau das Zimmer verließ, um ein Taxi zu bestellen, streifte Colin Selene die dreckigen Ballerinas von den Sohlen.

„Selene. Aufwachen.", er rüttelte sie sanft an der Schulter, doch sie regte sich nicht. Auch nicht, als er stärker an ihr schüttelte. „Selene?" Zaghaft beugte er sich zu ihrer Brust und lauschte ihrem Herzschlag. Erleichtert atmete er aus. Wie hatte er bloß für einige Sekunden denken können, sie sei tot? Doch durch ein weiteres heftiges Schütteln, ließ sie sich noch immer nicht wecken. Anscheinend war sie von ihrem Traum so gefangen genommen, dass sie ihm nicht entfliehen konnte. Da Colin keine Geräusche der Alten mehr hörte, beeilte er sich Selene das rote Kleid auszuziehen und ihr das T-Shirt überzustreifen. Dann wandte er sich der Hose zu, welche gar nicht so einfach war, jemand anzuziehen. Doch es gelang ihm und abermals wunderte er sich darüber, dass sie dadurch nicht erwachte.

Er hatte ziemlich lange gebraucht, bis Selene die Klamotten anhatte, doch weder hörte noch sah er etwas von dem Ehepaar. Er würde es niemals zugeben, doch die ganze Situation war ihm unheimlich. In ihm saß ein beklemmendes Gefühl, weswegen er sich von dem Sofa erhob und in das Zimmer ging, in welches auch die Beiden gegangen waren. Doch dieses Zimmer wurde schmäler und aus ihm wurde schlussendlich ein schmaler Gang. Colin schluckte und sah aus dem Fenster. So finster war es draußen doch noch gar nicht. Er wollte nicht auf das Taxi warten, er würde gleich mit Selene verschwinden. Zwar war er kein Angsthase und enorm verausgabt, doch sein Bauchgefühl verriet ihm, dass dieses Haus nichts Gutes verhieß. Irgendwie schien es verhext ... Unheimlich und mysteriös.

Colin drehte sich um, um nach der schlafenden Selene zu sehen. Doch anstatt von Selene, starrte er der grinsenden Alten ins Gesicht.

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