61. Zwiespalt

115 10 3
                                    

Sienna
Ich kann es sehen. Ihre Auren sind überwiegend ein Gemisch aus Grau und Schwarz. Sie sind zwar schwach und nicht sehr stark zu erkennen, aber je länger ich sie anschaue, desto deutlicher kommen mir die Farben vor. Und trotzdem ist eins nicht zu übersehen: das unruhige, permanente Wabern. Ich weiß nicht, aber irgendwie... versprühen sie Verzweiflung, Angst, aber auch Hass.
Keryno töten sie einfach, weil sie sowieso nicht wissen, ob ein C-Vampir vorher ein Mensch war oder nicht. Woher denn auch? Ich würde es auch nicht wissen, könnte ich es nicht an ihren Auren erkennen.
Nur bei D-Vampiren ist es eindeutig.
Dennoch sträubt sich in mir alles dagegen, die Vampire hier zu töten. Das schlechte Gewissen nagt an mir, scheint mich nahezu zerfressen zu wollen.
Ich seufze leise. Warum mache ich mir überhaupt darüber Gedanken?

Ich sollte sie mit Freude töten, schließlich hat diese Spezies meine Freunde umgebracht und ich habe mir geschworen, sie auszulöschen und alle ohne zu zögern zu töten. Sie haben es nicht verdient zu leben und sollten vom Erdboden verschwinden, sie sind eine Gefahr für alle.
Aber gilt das für diese C-Vampire, die einst ein Mensch waren, genauso wie ich? Die einfach so in diesen blutigen Teil der Welt hineingezwungen wurden?

Indem Vampire auf der ganzen Welt nichts als Leid, Schmerz, Trauer und Chaos verbreiten und Leben zerstören, haben sie mir oft genug bewiesen, was für Monster sie sind. Und obwohl ich gegenüber dieser Spezies nichts weiter als unendlichen Hass empfinde, kann ich nicht anders, als für diese C-Vampire Mitleid zu verspüren. Immerhin haben sie es sich nicht ausgesucht zu einer solchen Bestie zu werden. Auch sie haben ein ganz normales Leben geführt. Waren umgeben von geliebten Freunden und Familie. Wurden genauso brutal herausgerissen wie ich es wurde.

Was soll ich nur tun?

Wieso werde ich überhaupt gefragt?

Ich habe nicht das Recht, über Leben und Tod zu entscheiden. Niemand hat das.

Einerseits möchte ich sie alle retten, weil sie doch bloß ihr altes Leben zurück möchten und ich das besser nachvollziehen kann als jeder andere hier, aber andererseits ist es meine Pflicht als Keryno sie auszulöschen.
Habe ich überhaupt eine Wahl? Liegt es überhaupt an mir, diese Entscheidung letzten Endes zu treffen? Was, wenn das hier bloß ein Test ist? Im Grunde genommen ist es egal wofür ich mich entscheide. So oder so würden die Anderen die C-Vampire töten.
Meine Augen gleiten zu meiner rechten Hand und sofort denke ich an mein Schwert. Ich laufe los, halte meine rechte Hand nach rechts und lasse mein Schwert in seinem goldenen Funkeln erscheinen.
Es ist nicht nur dazu da, um Menschen vor Vampiren zu beschützen oder zu retten, sondern auch um jene zu retten, die selbst einst Menschen waren. Sie sind nach wie vor Opfer von der Grausamkeit der Vampire.

Um diesen ganzen Frauen weiteres Leid zu ersparen, werde ich sie nun retten. Mit diesem Gedanken erwische ich die erste Vampirin, die bereits ihren Verstand verloren hat. Die wahren Monster sind nicht diese hier, die ihren Verstand verlieren, sondern es sind die echten Vampire, die diese ehemaligen Menschen verwandelt haben. Die C-Vampirin weicht meinem Angriff aus und setzt zur Gegenattacke an, doch ich springe leichtfüßig zur Seite und ramme meine Klinge in ihr Herz. Als Mensch, egal ob Keryno oder nicht, ist es meine Pflicht, sie alle vor noch mehr Leid zu bewahren und ihnen nun eine schnelle Erlösung zu bringen.

Ich halte inne.

Aber warum sticht es dann so sehr in meiner Brust? Warum rumort es dann in meinem Magen, als müsste ich mich jeden Moment übergeben?

Tief im Inneren weiß ich, weshalb.

Zu denken, ich würde sie vor weiterem Leid bewahren, indem ich sie töte, ist bloß eine Ausrede. Ein mieser Versuch, diese aufkommenden Zweifel zu verdrängen.

Keryno - Die verborgenen VampireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt