Keryno - Die verborgenen Vampire

58. Die Menschlichkeit

Entrüstet reiße ich meine Augen auf und ich keuche laut auf. Alles in mir brodelt.

Wie kann dieses Arschloch so etwas nur sagen?

Wenn das, was er sagt, stimmt, dann muss ein Großteil dieser C-Vampire wirklich Menschen gewesen sein. Menschen mit Familien, Freunden, mit einem eigenen Leben.

Und all dies wurde ihnen nun ohne ihre Zustimmung genommen.

Man hat sie einfach aus ihrem gewohnten Umfeld gezogen, als würde man ein Blatt Papier rücksichtslos aus einem Block herausreißen. Oder ein kleines Kind aus seiner Familie. Ich kann mir nicht einmal im Entferntesten vorstellen wie das sein muss, wenn man gegen den Willen in ein Monster verwandelt und gezwungen ist Blut zu trinken, um zu überleben. Als wäre das nicht schon schlimm genug, muss man auch noch die Befehle desjenigen, der einem das Leben ruiniert hat, gehorchen, damit der eigenen Familie nichts angetan wird. Ein Leben getränkt in Blut, fern ab von Freunden und Familie, ohne sie wiedersehen oder gar umarmen zu können. Das gewohnte Leben komplett hinter sich lassen. Wie schmerzvoll das sein muss.

Nein, ich weiß bereits wie schmerzvoll das ist.

Es erinnert mich an meinen eigenen Umstand. Nur mit dem Unterschied, dass ich kein Vampir bin, der sich von Blut ernähren muss.

Aber was sollen wir jetzt tun?

Ich habe doch beschlossen alle Menschen zu beschützen und sie vor den Blutsaugern zu retten. Menschen, die meine Hilfe brauchen, meine Hand zu reichen und die Vampire, jeden einzelnen, auszulöschen.

Nur als was soll ich die hier ansehen?

Sie waren einmal Menschen, haben ein normales Leben wie ich früher geführt, jetzt sind sie Vampire, die zum Überleben Blut brauchen, allerdings wollten sie das doch gar nicht. Niemand hat sie gefragt, ob sie ein solches Monster werden wollen, sie wurden einfach zu einem gemacht. Wenn ich sie töten würde, würde das nicht heißen, dass ich Menschen getötet habe – meine eigene Spezies? Auch, wenn sie jetzt Vampire sind? Kann ich sie trotzdem beschützen und so tun, als seien sie noch immer Menschen?

Dieses schimmernde Rot in ihren Augen und die spitzen Eckzähne sind der klare Beweis dafür, dass sie nicht länger menschlich sind. Ihre Aura ist zwar enorm schwach, aber immerhin ebenfalls rötlich.

Kann man ihnen überhaupt noch vertrauen? Schließlich werden sie mit dem Tod ihrer Familie erpresst und würden sicherlich alles tun, um sie zu beschützen. Und ganz ehrlich?

Das würde ich auch.

Ich weiß nicht was ich tun soll. Ich weiß es wirklich nicht.

„Cordelia, komm her", ruft Niall, woraufhin ein weiblicher C-Vampir mit unzähligen Schrammen und Kratzern neben ihn tritt, den Blick zum Boden gesenkt. Niall legt eine Hand auf ihre Schulter und befiehlt: „Hol' mir das Mädchen dort drüben." Er zeigt auf mich. „Du weißt was passiert, wenn du es nicht tust."

„Verstanden?", fragt er nachträglich mit drohendem Unterton.

„Ja, natürlich."

Sie schaut erst leicht zur Seite, ehe sie einen Schritt nach vorn setzt und im nächsten Augenblick auch schon vor mir steht. Gequält verzieht sie das Gesicht, dreht sich schwungvoll im Kreis und tritt nach mir. Doch ich weiche nicht zurück, bleibe einfach stehen. Cordelia ist ein kleines Stückchen kleiner als ich, weshalb sie leicht zu mir aufschauen muss. Knapp vor meinem Bauch hält sie ihren Fuß an.

„Warum weichst du nicht aus?", fragt sie geschockt und perplex, die Augen weit aufgerissen.

„Du hast gezögert und das zeigt, dass immer noch ein menschlicher Funken in dir steckt. Obwohl du weißt was passieren würde, wenn du den Befehl nicht ausführst, hast du mich dennoch nicht verletzt, weil du niemandem weh tun möchtest. Du greifst mich an, obwohl du das eigentlich gar nicht möchtest und warum? Weil das Leben deiner Familie und vermutlich auch deiner Freunde auf dem Spiel steht. Um sie zu beschützen. Das ist ein eindeutiger Beweis für eure Menschlichkeit, denn das ist das, was uns Menschen ausmacht. Wir würden für unsere Familien alles tun. Würden glücklich lügen, betrügen, Geschäfte mit dem Teufel machen oder selbst zu Dämonen werden und wieso? Weil die Familie eines Menschen alles ist. Du musst nun keine Angst mehr haben. Wir holen euch hier raus und dann ist auch deine Familie in Sicherheit."