27. Ein Grund zum Leben

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Sienna

Es tut so gut, diese Gedanken loszuwerden und ich habe das Gefühl, als würde mir eine riesige Last, ein gigantischer Stein vom Herzen fallen.

„Was redet ihr da?", brüllt einer der Vampire.

Ich drehe mich um, meine zu einem Lächeln verzogenen Lippen beibehaltend. Ein matter Schmerz macht sich in meinem Herzen breit, aber er ist erträglich. Es ist okay. Ich bin nicht mehr allein.

Als ich die Vampire anschaue, ist da wieder dieser merkwürdige Schimmer, den ich auch bei der letzten Mission gesehen habe. Bei jedem Vampir ist die Farbe an sich unterschiedlich, doch bei allen winden sich schwarze Fäden.

Ist das etwa die Aura?

Aus dem Augenwinkel sehe ich zu den Levi und den Anderen. Sie können die Auren bestimmt auch sehen.

Natürlich! Ich bin nun schon einige Zeit bei der Keryno-Organisation und habe auch schon ein paar Mal die Heilsalbe aufgetragen bekommen, also kann ich die Auren nun ebenfalls sehen!

Sie sind ziemlich kräftig, also sollten das hier B-Vampire sein nehme ich an.

„Es hat dich nicht zu interessieren, was wir bereden. Hat dir das dein toller König etwa nicht beigebracht? Wenn der Kuchen spricht, haben die Krümel Pause."

„Krümel? Die werden dich gleich zerquetschen, wie ein mickriges Insekt. Als ob wir gegen jemanden wie dich, die nur aus Rache zu 'nem Keryno wurde, verlieren würden. Was ein Schandfleck", erwidert er spöttisch lachend, eine Hand in die Hüfte gestützt.

Woher weiß er das schon wieder?

„Was hat das mit einem Schandfleck zu tun? Ist der Wunsch, für ermordete Menschen die einem unendlich wichtig waren und für einen die Welt bedeutet haben, Rache zu begehen nicht normal? Für einen Menschen ist die Familie alles, der Grund warum sie ohne zu zögern zu Monstern werden würden. Aber sowas könnt ihr erbärmlichen Vampire ja nicht nachvollziehen, immerhin hat für euch so etwas keinerlei Bedeutung. Da könnte ich doch fast Mitleid und Bedauern für euch empfinden."

„Das ist ja wirklich sehr gutherzig von dir", höhnt der Blutsauger, ehe er in eine kindliche Stimmlage wechselt. „Und da hast du jetzt beschlossen, dass Rache der falsche Weg ist?"

„Nein."

„Nein?", wiederholt der Vampir leise auflachend.

„Es ist nicht die Rache, die der falsche Weg ist, sondern die Art und Weise, wie ich darüber gedacht habe, wie ich die Sache angegangen bin. Ich dachte, Rache wäre mein einziger Grund, um weiterzuleben. An sich ist das nicht falsch, denn ich denke, solange man überhaupt einen Grund hat, ist es egal wie er lautet, Hauptsache man lebt. Aber ich war blind vor Rache, Wut und Hass, habe das Ziel, das ich eigentlich haben sollte, aus den Augen verloren. Natürlich will ich mich rächen, allerdings sollte nicht mein einziger Hauptgrund sein, warum ich weiterlebe", ich schüttle langsam den Kopf. „Nein, ich sollte für meine Familie weiterleben. Für die, die ihr Leben wegen euch geben mussten. Ist es also als Freundin nicht meine Pflicht glücklich zu sein und zu lachen, da meine Freunde es doch nicht mehr können? Mein Leben sinnvoll zu nutzen, ihm einen triftigen Grund zu geben, um meine Freunde, die sich für mich geopfert haben, stolz und ihren Tod nicht vergebens zu machen? Ja, ich sollte die Menschen beschützen. Verhindern, dass ihr noch mehr Leid anrichten könnt, dass andere den gleichen Schmerz, dieselbe Trauer und den Hass durchleben müssen. Und während ich das tue, sammle ich genug Kraft, Stärke und Macht und sobald ich sie habe, werde ich mich für den Tod meiner Freunde, die für mich Familie waren, rächen. Ich werde alle Blutsauger töten!"

Vor meinem inneren Auge taucht wieder dieses Bild auf, das einen blauen Himmel und mich in Ketten eingewickelt zeigt, doch die Ketten um meinen Körper zerspringen und rieseln wie Regentropfen auf den Boden hinab. Ich kann gar nicht beschreiben, wie sehr es mich erleichtert, diese Worte, diese Erkenntnis, die ich vorhin gemacht habe, laut auszusprechen und mir erneut zu bestätigen.

Keryno - Die verborgenen VampireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt