26. Erkenntnisse

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Mit starrem Blick kauere ich noch immer in der Ecke. Die Sicht verschwommen, die Augen geschwollen und rot, die Haare zerzaust und verklebt von den ganzen Tränen. Wenn man mich sehen würde, könnte man denken, ich wäre aus The Ring. Die letzten beiden Tage habe ich so gut wie nichts anderes gemacht, als still auf dem Bett an die Wandecke gelehnt zu sitzen und mir buchstäblich die Seele aus dem Leib zu weinen. Ich bin nicht zum Unterricht gegangen und habe nur dann gegessen, wenn die meisten Schüler aus dem Speisesaal raus waren. Nicht, dass ich sonderlich viel gegessen hätte, nein, mir war auch gar nicht danach. Levis Worte hinterließen gemischte Gefühle in mir, ließen mich an allem zweifeln, was ich mir bisher seit damals vorgenommen hatte.

War es die richtige Entscheidung, der Organisation beizutreten?

Für die Rache weiterzuleben?

Alles zu verdrängen, ohne ein Fünkchen Freude im Leben? Aber welche Freude denn...

Wenn ich mich wirklich mit allem auseinandergesetzt hätte, dann würde es mir jetzt vielleicht ein bisschen besser gehen und mir das alles hier nicht mehr ganz so schwer fallen. Dann würde ich mich womöglich auch nicht so fremd fühlen. Vielleicht wäre ich auch ein wenig glücklicher.

Glücklich...

Was ist das überhaupt? Wie fühlt sich das an? Ich weiß nicht wo oben und unten, was richtig und was falsch ist.

Mein Kopf ist voll mit Gedanken, aber doch leer. Ich fühle mich erfüllt mit Gefühlen die nahezu zu explodieren scheinen, aber doch emotionslos. Mir fallen tausende Gedanken über mein Leben ein und doch keine. Das Karussell der Gedanken dreht sich schnell, aber doch langsam. Meine Brust schmerzt. Ich fühle Schmerz und Trauer, aber doch nichts.

Bin ich eine schlechte Freundin? Eine schlechte Freundin, weil ich meine Freunde vergessen wollte? Aber was ist mit meinen Freunden passiert? Plötzlich weiß ich nicht mehr, warum ich überhaupt so betrübt bin.

Warum? Warum bin ich traurig wegen meiner Freunde? Wieso weine ich? Aus welchem Grund hasse ich mich? Weshalb bin ich wütend auf mich und die Welt? Wütend auf die Welt, die mir meine Freunde wegnahm und sich trotzdem weiterdreht? Und plötzlich tauchen die Gedanken wieder auf. Meine Freunde sind tot.

Tot. Tot. Tot. Tot.

Das Wort wiederholt sich wie ein Echo das in den Bergen widerhallt. Es scheint so, als würde ich diese Tatsache erst jetzt so wirklich realisieren, als hätte ich sie die letzten Wochen verdrängt, nein, nicht wahrgenommen. Sie sind tot...

Die Freunde, die meine Familie waren und die ich so undendlich geliebt habe, sind tot. Ich werde sie nie wiedersehen. Der Damm aus angestauten Gefühlen bricht erneut und hervorgequollen kommen nicht Hass und Wut, sondern unendliche Trauer und unaufhörlicher Schmerz, nehmen mir die Luft zum Atmen während sich Tränen einen Weg über meine Wangen bahnen.

Ich fühle mich, als würde die grausame Schwere der Realität mich zerquetschen. Spüre, wie meine Seele buchstäblich zerrissen wird.

Es ist schwer zu vergessen, weil uns jemand die schönsten Gefühle und Erinnerungen schafft, dass wir diese Personen so sehr schätzen und lieben, hoffend, sie würden für immer mit uns sein. Aber eines Tages verschwinden sie einfach, sind nicht länger mit einem. Und du wirst traurig wenn du bemerkst, dass du vergessen möchtest, aber du die Personen, die deinem Leben eine Bedeutung gegeben haben wie sonst niemand anderes, nicht vergessen kannst.

Wie soll ich das alles noch länger aushalten?

Ich habe keine Hoffnung mehr, kein bisschen Kraft ist noch übrig und plötzlich scheint mir der einzige Ausweg von diesem Leid Selbstmord zu sein, denn was bringt mir dieses Leben nun noch länger?

Keryno - Die verborgenen VampireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt