25. Wahrheit und endlose Tränen

185 20 4
                                    

Schwärze. Unendliche Dunkelheit, ohne auch nur ein Fünkchen Licht. Ich drehe mich im Kreis, doch weit und breit nichts außer dieses Schwarz. Vorsichtig mache ich einen Schritt nach vorn, dann einen weiteren.

Was ist passiert?

In meinen Erinnerungen klafft ein riesiges Loch, als habe man ein Stück aus einem Blatt Papier herausgeschnitten. Aber dann, ganz plötzlich, fährt ein Stich durch meinen Kopf, wie ein Pfeil der von jemandem abgeschossen wurde. Bilder von der letzten Patrouille durchfluten mich wie an Land schwappendes Wasser vom Meer.

Nachdem ich den Vampir getötet hatte, ist mir unfassbar schwindlig geworden und ich habe das Bewusstsein verloren.

Richtig, ich bin vom Dach gefallen! Habe ich mir sämtliche Knochen gebrochen? Bin ich jetzt tot? Wo befinde ich mich hier?

Ich kann nicht sagen, ob das hier die Realität oder nur ein Streich meines Kopfes, meiner selbst ist. Das kann unmöglich der Ort sein, an den Menschen nach ihrem Tod kommen. Oder bin ich womöglich immer noch bewusstlos und das hier ist der innerste Kern meiner Seele, meiner Gedanken oder meines Herzens? Scheinbar endlose Dunkelheit... Wie passend.

Mein Inneres ist ein Nichts, ausgelaugt von den Strapazen der letzten Wochen. Von der Wut, dem unendlichen Verlangen nach Rache, dem Hass und unfassbaren Schmerz. Wie ein Gift haben sie sich in meinem Körper verbreitet und mich betäubt.

Die Dunkelheit macht mir Angst. Ich will nicht allein sein!

Auf einmal flimmt ein Lichtlein auf, dann ein weiteres. Es folgen immer mehr, bis ich von ihnen umzingelt bin. Nur wenige Sekunden später verwandeln sie sich Rechtecke. Hätte ich gewusst was danach geschieht, hätte ich mir die Dunkelheit definitiv nicht weggewünscht, denn sie ist um Längen besser als das, was ich nun zu sehen bekomme.

Ich bin umgeben von tausenden Erinnerungen. Jene mit Klassenkameraden, Ausflügen, Erinnerungen mit meinen Eltern, ehe sie denen mit Sam, Dominik und Justin Platz machen.

Ein dicker Kloß setzt sich in meinem Hals fest und meine Augen beginnen fürchterlich zu brennen, Tränen sammeln sich in ihnen. In mir flammt der Wunsch auf, sie sofort in die Arme zu schließen und mit ihnen zu lachen, ihnen von diesem fürchterlichen Albtraum zu erzählen.

Sie würden mich fest umarmen und mir versichern, dass sie sich niemals von meiner Seite begeben würden. Schließlich haben wir geschworen, zusammenzubleiben bis wir alt und schrumpelig sind. Ich will mit ihnen zocken, mich mit ihnen über Lehrer, Schule, Hausaufgaben beschweren, mit ihnen Eis essen gehen, unsere übliche Routine in der Stadt durchlaufen. Mich mit Sam über gutaussehende Typen unterhalten, mit ihr darüber traurig sein, dass wir niemals solche Jungs abkriegen würden.

Ich will sie wiedersehen.

Schluchzend kralle ich meine Finger in meine Haare und kneife die Augen fest zusammen. Ich will das nicht sehen, will mich nicht so elendig fühlen müssen beim Anblick dieser ganzen Szenarien. Wie bei einem Albtraum, dem man zu entfliehen versucht, öffne ich meine Augen, um sie dann wieder zusammenzukneifen.

Irgendwann gelingt es mir aus diesem Raum der Erinnerungen zu entfliehen und finde mich in einem Zimmer wieder. Erleichtert atme ich aus, doch die Bilder spuken mir noch immer im Hinterkopf herum.

Als erstes erfasse ich eine weiße Decke und drehe vorsichtig meinen Kopf.

Anscheinend bin ich in einer Art Krankenzimmer. Wenige Meter neben mir befinden sich Fenster und ich schaffe es, meinen Kopf leicht anzuheben, um einen Blick nach draußen zu erhaschen. Ein strahlend blauer Himmel und die stechende Sonne grinsen mir entgegen. Von der Sonne geblendet, lehne ich mich leicht zurück, lasse meinen Blick durch den Raum schweifen und bleibe an einer Uhr hängen, die 11:43 Uhr anzeigt.

Keryno - Die verborgenen VampireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt