6. Kein Ort

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Langsam öffne ich meine Augen und kneife sie sofort wieder zusammen.

Urgh. In meinem Schädel brummt es wie verrückt, als hätte sich dort ein Bienennest festgesetzt. Ächzend reibe ich mir die Augen.

Wie spät ist es? Hab ich etwa verschlafen?!

Mit zusammengezogenen Brauen fliegt mein Blick umher. Neben dem Bett steht ein weißer Holzschrank mit einer Lampe. Der Boden besteht aus hellem Laminat und auf der rechten Seite des Zimmers befindet sich eine beigefarbene Tür. An einer anderen Wand, neben einem ebenfalls beigefarbenen Kleiderschrank, ist eine weitere Tür.

Das ist nicht mein Zimmer.

Wo bin ich? Was ist passiert?

Plötzlich schießt alles wie ein Blitz vor meinem inneren Auge an mir vorbei und augenblicklich sammeln sich Tränen in ihnen. In meinem Hals bildet sich ein fetter Kloß, der mir beinahe den Sauerstoff raubt.

Nein, nein, nein.

Das kann nicht wahr sein.

Das kann einfach nicht wirklich passiert sein!

Wieso mussten sie sterben? Was waren das für Typen?

Das waren doch nicht etwa... Vampire?! Nein, das kann nicht sein.

Vampire gibt es nicht.

Vielleicht war das ja doch nur ein fürchterlicher Albtraum! Genau, das muss es sein. Ein Albtraum.

Aber wo befinde ich mich dann hier?

Mit zittrigen, kraftlosen Beinen rapple ich mich auf und kann mich gerade so an der Wand stützen, als meine Beine wegknicken. Mein Körper fühlt sich mir völlig fremd an, als hätte ich kaum noch eigene Kontrolle über ihn. Als sei er bloß ein labbriges Stück Fleisch. Mit brummendem Schädel erhebe ich mich wieder langsam und öffne die Tür neben dem Kleiderschrank. Ein sauberes, türkisfarbenes Badezimmer kommt zum Vorschein, wo ich mich vor das Waschbecken stelle und in den Spiegel schaue.

Meine Haare sind vollkommen zerzaust und stehen in alle Richtungen ab, meine Haut ist so weiß wie ein Blatt Papier, meine Augen sind stark gerötet und unter ihnen sind dunkle, tiefe Schatten des Todes.

Des Todes... Und in diesem Augenblick wird mir nur allzu klar, dass es kein Albtraum war.

„Man seh' ich scheiße aus."

Ich lache verbittert.

Nun rollen doch die Tränen meine Wangen hinab. Sie kullern und kullern, finden kein Ende und gleichen einem Niagarafall. Meine Haare hängen mir ins Gesicht und kleben wegen der Tränen unangenehm auf meinen Wangen.

Mein Blick fällt auf das Badfenster und ich beiße mir auf die Unterlippe.

Wieso sticht die Sonne so? Wieso scheint sie überhaupt? Wieso dreht sich die Erde weiter? Meine wertvollen Freunde sind gestorben!

Als meine Gedanken zu Sam schweifen, schlage ich mir die Hand vor den Mund und mein Blick wird vollends durch die Tränen verschleiert. Mein Kopf scheint vor Hitze beinahe in Flammen aufzugehen und alles dreht sich.

Ich habe es nicht geschafft, sie zu finden und zu retten. Ihre vollkommen verängstigte Stimme echot in meinem Kopf wie in einer riesigen Höhle. Ich hatte ihr doch versprochen, dass alles gut wird.

Ein Versprechen das ich nicht halten konnte.

Sie musste ganz alleine sterben.

Niemand war da, als sie von diesen kranken Bastarden umgebracht wurde. Niemand war da, um sie zu beschützen. Niemand. Nicht einmal Dominik und Justin konnte ich beschützen.

Keryno - Die verborgenen VampireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt