37

3.5K 153 8
                                    

Das Zeitgefühl hatte ich völlig verloren, weshalb ich nicht mal wusste, wie lange ich hier stand und in den Abgrund starrte. Wem würde es schon auffallen, wenn es einen Menschen wie mich weniger auf der Welt gab. Niemanden würde es interessieren. Warum sollte es auch? Warum sollte man sich auch für Menschen interessieren, die ihr eigenes Leben aufgeben wollen. Keiner, wirklich kein einziger, würde es jemals richtig verstehen, warum ein Mensch das vielleicht getan hat, denn keiner weiß, was in dem Moment in dessen Kopf vorging. Es würde auf ewig ein unlösbares Rätsel bleiben...

Als würde mich jemand oder etwas steuern, kletterte ich ganz langsam über das eiserne Geländer. Ich hielt mich daran fest und drehte mich fast schon in Zeitlupe Richtung Abgrund. Was hatte ich schon zu verlieren? Genau. Nichts. Ich hatte nichts, was mich hier auf dieser Welt halten würde. Was war schon ein Leben in Angst, Schmerz und Leid. Was war schon ein Leben ohne Hoffnung, Liebe oder einen Lichtblick. Ein Leben das man lebte, ohne, dass man es eigentlich richtig lebte. Es war sinnlos. 

Der kühle Nachtwind der aufgekommen war, wehte durch meine Haare und brachte mich zugleich zum Zittern, doch es war mir egal. Gerade war mir so ziemlich alles egal. Würde neben mir ein Blitz einschlagen, wäre ich vielleicht sogar noch froh darum. Dann wär es wenigstens schneller vorbei und der Schmerz wäre nur kurz. 

Nie hätte ich gedacht, dass ich wirklich mal soweit gehen würde, doch ich sah keinen anderen Ausweg mehr. Meine gesamte Vergangenheit hat mich innerlich schon viel zu sehr zerstört, mich kaputt gemacht. Ich bin ein innerlich zerstörter und kaputter, nutzloser Mensch, den niemand brauchte und so ein Leben nicht mehr leben wollte. Das beschreibt mich wohl am besten. Ich will das alles einfach nicht mehr. Ich will frei davon sein. 

Ganz langsam löste ich eine Hand von dem Geländer. Ich müsste einfach nur loslassen und springen. Dann wär es endlich vorbei und ich wäre keine Last mehr für irgendwen. 

Der Tod muss nicht immer etwas Schlechtes bedeuten. Für manche kann er vielleicht auch positiv sein. Die einen befreit er von einer schrecklichen Krankheit, andere, zu denen auch ich gehöre, von Leid und Schmerz. Der Tod konnte auch was Befreiendes sein...

Mein Blick wanderte wieder in die Tiefe. Wie weit es da wohl runter ging? Was da unten wohl war? Wollte ich das eigentlich wissen? Es war doch sowieso egal. Ich würde es sowieso nie sehen.

Ich trat einen ganz kleinen Schritt nach vorne, sodass ich nun am äußersten Rand der Brücke stand und nun noch tiefer in den Abgrund, in die Tiefe, die mich befreien wird, blicken konnte.

"Ist da jemand, der mein Herz versteht? Und der mit mir bis ans Ende geht? Ist da jemand, der noch an mich glaubt? Ist da jemand? Ist da jemand? Der mir den Schatten von der Seele nimmt? Und mich sicher nach Hause bringt? Ist da jemand, der mich wirklich braucht? Ist da jemand? Ist da jemand?", flüsterte ich die Zeilen eines Liedes, dass mir genau jetzt in den Sinn kam, in die Stille der Nacht, während mir gleichzeitig ein paar Tränen über die Wangen liefen.

Nein, da ist niemand. 

Frische Luft || Wincent Weiss Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt