Primrue Mellark | Kapitel 3

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Es war still auf den Platz.
Man hörte nichts.
Vielleicht nur mein rasendes Herz.
Das durfte nicht sein.
Nicht mein kleiner Bruder, der niemanden etwas zu Leide tun konnte.
Es war nur ein Scherz bestimmt.
Doch keiner fing an zu lachen als sich Haymitch mit hoch erhobenen Kopf Richtung Treppe begab.
Warum schrie niemand das er freiwillig für ihn einspringen würde? WARUM?
Mein Blick huschte zu den älteren Jungen. Die meisten schauten betreten zu Boden. Manche, die meine Augen auf sich spürten, sahen kurz zu mir um sich dann nur schnell wieder abzuwenden.
Feiglinge. Verdammte Feiglinge, schoss es mir durch den Kopf.
Ihr alle liebt ihn, ihr alle wisst was meine Familie durchgemacht hat und trotzdem wollte ihr nicht an seiner Stelle gehen.
Das durfte nicht wahr sein.
Bitte!
Haymitch war bei Effie angekommen, die in kurz an sich drückte. Natürlich! Effie konnte ihn retten, sagen, dass es ein Versehen war und einen anderen Namen ziehen.
Aber warum tat sie es nicht?
Es durfte nicht sein. Innerlich schrie ich auf als sie ihn losließ und zu der Schale mit den Mädchennamen ging.
Nein!
Wann meldete sich endlich einer? Warum beeilte sie sich so?
In meinen Kopf rauschte es, ich konnte nicht mehr klar denken, hörte nichts.
Irgendwo weiter vorne erschrak ein junges Mädchen, nicht älter als mein Bruder. Ihre Freundinnen warfen sich weinend gegen sie.
Da war also der weibliche Tribut von Distrikt 12, keine Hilfe für meinen Bruder.
Er war gut, aber er würde niemanden töten können, selbst wenn er dafür starb. Wenn er es tun würde, wäre er nie mehr der selbe.
Das würde meine Eltern, Haymitch, alle die sich noch an die Rebellion erinnerten umbringen.
Es würde sie zerstören, meine geliebten Eltern, die mir so viel gegeben haben.Meine Gedanken wollten sich nicht ordnen, nur eine Sache drängte sich immer lauter nach vorne. Retten, du musst ihn retten und beschützen!
Meine Füße setzten sich von alleine in Bewegung. Am Anfang musste ich mich noch durch die Mädchen dran vorbei drücken.
Ich erntete nur verwirrte Blicke, doch dann verstand die erste und machte mir Platz.
Die anderen folgten und so stand ich im Mittelgang bevor das junge Mädchen die Treppe erklimmen konnte. Sie drehte sich mit tränennassen Augen zu mir um und sah mich mit Hoffnung an.
Bevor ich noch einmal darüber nachdenken konnte, was nun aus mir werden würde sprach ich mit fester Stimme: "Ich melde mich freiwillig als Tribut!!!"
Nun ging doch ein Raunen durch die Menge als ich mit festen Schritt nach vorne ging.
Stimmen flüsterten: "Ich wusste doch, dass sie ganz heiß darauf sein würde.", "sie hat sich bestimmt drauf gefreut".
Ich konnte nicht zu meinen Eltern schauen.
Dachten sie das gleiche über mich, dachten sie ich würde das tun, weil ich es wollte?
Als ich bei der Treppe ankam warf sich das junge Mädchen in meine Arme. Sie war klein, sogar kleiner als ich.
"Danke, danke", schniefte sie immer wieder als ein Friedenswächter sie langsam von mir löste. Ich wusste nicht einmal ihren Namen.
Langsam trat ich die Treppe hoch wo mich Effie mit entsetzen Blick in Empfang nahm.
In ihren Augen standen Tränen und ich dachte mir nur, dass, wenn sie jetzt anfangen würde zu weinen, ich wahrscheinlich zusammenbrechen würde.
Mir wurde klar, als ich meinen kleinen Bruder in den Arm nahm und über die Menschenmenge schaute, dass ich niemanden von ihnen wiedersehen würde.
Nur halbherzig bekam ich mit wie Effie meinen Namen verkündete.
Das gegenseitige Hand geben hatte sich in dem Moment erledigt, als ich meinen Bruder in den Arm genommen hatte.
So war die Zeremonie schnell erledigt und wir wurden ins Gebäude geführt, getrennte Zimmer, so wie immer.
Vielleicht war es besser so.
Meinen Bruder würden wahrscheinlich alle besuchen wollen und mir war die Ruhe in diesem Zimmer lieber.
So konnte ich meinen Gedanken nachhängen und mich fragen was ich da eigentlich gerade gemacht hatte.
Ich hatte das Leben eines unschuldigen kleinen Mädchens gerettet.
Guter Punkt.
Ich würde meinen kleinen Bruder beschützen und alle anderen Tribute für ihn töten.
Auch guter Punkt.
Und am Ende würde ich mich selber töten müssen, damit er gewinnt...
Mein Herz schien einen Schlag lang auszusetzen, als ich mir dem bewusst wurde.
Ich würde sterben.
Bald.
Bevor ich durchdrehen konnte ging die Tür auf und mein Vater trat ein. Er wartete bis der Friedenswächter weg war und kam auf mich zu. Ich wusste nicht was ich erwarten sollte.
War er wütend auf mich?
Entäuscht?
Dachte er, wie die anderen?
Aber er sagte gar nichts, nahm mich einfach nur in den Arm und ich lies mich bereitwillig hineinfallen. Das würde ich nie wieder haben, kam es mir und ich musste die Tränen verdrücken.
Nicht vor ihm.
Ich konnte meinen Vater das nicht antun und vor ihm zusammenbrechen. Also ignorierte ich das Brennen in meinen Augen und schaute ihn an.
"Wo ist Mom?", erkundigte ich mich mit fester Stimme. Zumindest hoffte ich, dass sie fest klang.
"Sie ist bei Haymitch. Er hat Angst.", erwiderte mein Vater.
"Ich pass auf ihn auf, versprochen. Mir geht es gut. Geh ruhig auch zu ihm"
Ich lächelte Peeta an.
Überzeugt war er nicht, dass wusste ich.
Noch einmal nahm er mich in den Arm, und ging dann schweren Herzens.
Ich würde ihn also nie wieder sehen.
Nie wieder sein Lächeln erwidern können, nie wieder seine starken Arme um mich fühlen.
Eigentlich wollte ich nur zusammenbrechen und deswegen war ich froh als ich mich umdrehte mein "Opa" Haymitch in der Tür stand.
Ich rannte zu ihm, warf mich an seine Brust und weinte hemmungslos.
Es kamen Laute aus meinen Mund die ich das letzte mal aus ihm gehört hatte, als mich alle ansahen wie eine Mutation und ich noch nicht damit umgehen konnte. Er lies mich ein paar Minuten gewähren, bevor er mich mit sanfter Gewalt von sich löste.
"Na na", begann er, " Wer wird denn hier jetzt zusammenbrechen? Das bringt doch nichts. Du hast diesen Weg gewählt, du ganz alleine. Also geh ihn jetzt auch!"
Im ersten Moment war ich über seine Worte geschockt. Wie konnte er nur?
Ich setzte mich gerade mit dem Gedanken auseinander zu sterben und er... hatte Recht. 
Ich hatte diesen Weg gewählt. Wollte ich nicht meinen Bruder retten?
Als ein zusammengebrochenes Häufchen Elend würde ich das nicht schaffen und dann würden meine Eltern beide Kinder verlieren.
Das durfte nicht passieren.
Haymitchts raue Worte halfen.
Ich begann wieder rational zu denken.
Sein Hemd, an welches ich mich geklammert hatte, wieder loslassend schaute ich zu ihm auf.
"Okay, was mach ich?", fragte ich mit noch leicht erstickter Stimme.
"Das was du gelernt hast. Du bist schnell, agil. Wenn du dich nicht fangen lassen willst, kann dich keiner schnappen. Deine Nahkampftechnik ist ausgezeichnet und jeder wird dich wegen deiner Größe und zierlichen Figur unterschätzen. Messer und Dolche sind wie die Verlängerung deiner Arme. Du willst deinen Bruder retten und für ihn sterben? Fein, wenn das dein Wunsch ist. Bring euren Mentor dazu, das er glaubt, dass er nur mit ihm gewinnen kann. Er muss ihn unterstützen, dass ist wichtig.", erklärte Haymitch aufgeregt.
Mit jedem Wort wurde sein Griff um meine Arme stärker und schmerzhafter.
Weil ich Angst hatte vor Schmerzen aufzuseufzen, wenn ich meinen Mund öffnen würde, nickte ich nur.
"Gutes Mädchen.", lobte er und drückte mich nun von sich aus an seine Brust. Dann flüsterte er. "Ich hab noch was für dich. Ich denke deinen Eltern würde es nicht gefallen wenn sie wüssten, dass du es siehst aber ihr alle habt immer nur gehört wie die Spiele waren, nie gesehen. Vielleicht hilft es dir und kann dich etwas darauf vorbereiten.
Mit diesen Worten steckte er mir eine kleine Disk zu.
"Die Spiele deiner Eltern", erklärte er und drückte mir zum Abschied einen Kuss auf die Stirn. "Denk immer daran. Peeta, Katniss und ich lieben dich so wie du bist. Zeig allen da draußen was du kannst, lass die Wut raus. Auch mit ihr lieben dich die beiden. Du bist ihr Glück und ihre Segen. Und vergiss nie, du hast mehr von den beiden in dir als du glaubst. Das hast du heute bewiesen."
Damit drehte er sich um und ging. Aber er war nicht schnell genug das ich nicht auch die Tränen in seinen Augen sah.
Es tat weh das zu sehen. Hatte ich was anderes erwartet?
...Vielleicht.
Der Raum war auf einmal zu still.
Ich begann auf und ab zu gehen. Wann war diese Stunde endlich vorbei? Keine Ahnung wie lange ich im Zimmer hin und her wanderte aber es lenkte mich ab.
Ab dem Moment, an dem ich diesen Raum verließ, musste ich stark sein. Keine Tränen oder Ängste mehr. Niemandem Schwäche zeigen. Sie sollten mich fürchten.
Dieses Mantra sagte ich mir immer und immer wieder auf, dass ich es schon fast selbst glaubte, als die Tür noch einmal auf ging.
"Mami", sagte ich mit erstickter Stimme und alle Stärke war vergessen.
Ihre Augen wirkten so unendlich leer.
Hatte ich wirklich das Richtige getan? Sie kam auf mich zu und zog mich mit sich auf das Sofa, welches im Zimmer stand. Unsere Blicke trafen sich und Katniss schien die Sorge in meinen Blick zu sehen. 
"Ich hätte das gleiche getan, Primrue.", begann sie und nahm meine Hand. "Das war immer mein größter Alptraum, weißt du? Zusehen wie meine Kinder einmal in diese Spiele müssten."
Tränen bildeten sich in ihren Augen und ich zog sie an mich. Meine Mutter hatte nie mit mir darüber gesprochen, nie vor mir geweint oder Schwäche gezeigt.
Warum uns? Warum musste es uns treffen?
"Es tut mir leid Mami", flüsterte ich an ihre Schulter. 
Sie rutschte nicht von mir weg und auch wenn ich spürte, dass sie immer noch weinte, sagte sie mit fester Stimme: "Nein mein Schatz. Zweifel niemals an deiner Entscheidung, egal was ist, egal was die Leute sagen. Du bist mein kleines Mädchen und auch wenn ich nicht weiß wie du deinen Bruder und dich verteidigen willst, weiß ich das du es wirst. Du hast den Sturkopf deines Vaters wenn es darum geht, dass du jemanden beschützen möchtest."
Ihr Lächeln war echt, auch wenn es von ihren Tränen getrübt war.
"Ich bring ihn dir zurück. Haymitch wird wiederkommen, und irgendwann werdet ihr diesen Alptraum vergessen, und mich. Das ist okay, wirklich!"
Meine Mutter schüttelte nur den Kopf, hob meinen Kopf mit der Hand, und zwang mich ihr in die Augen zu sehen.
"Niemals, hörst du", appellierte sie an mich, "egal was passiert, wir werden euch niemals vergessen!"
Dann wurden wir von dem Friedenswächter, der vor meiner Tür Wache gehalten hatte, unterbrochen.
"Es wird Zeit.", sprach er mit fester Stimme, doch ich sah, dass ich ihm Leid tat.
Immer noch die Hand meiner Mutter haltend stand ich auf.
Ich wollte nicht gehen aber ich musste stark bleiben.
Auf dem Flur kamen uns mein Vater und Haymitch entgegen.
Er wirkte nicht mehr wie der kleine, blondhaarige Junge, dem immer nur Unsinn einfiel. In seinen grauen Augen sah ich Angst und Verzweiflung. Ich wusste nicht ob mein Vater ihn meinen Plan erzählt hatte, aber er war ein schlauer Junge.
Er wusste genau, warum ich mich freiwillig gemeldet hatte.
Nicht, weil ich es wollte. Die Gewissheit, dass meine Familie immer noch hinter mir stand, gab mir die Kraft die Hand meiner Mutter los zulassen.
Wie magnetisch zog es sie in die Arme meines Vaters. 
Ja, sie würden meinen Tod überstehen. Gemeinsam, wie immer.
Ich hielt Haymitch die Hand hin. Er nahm sie, ohne zu zögern, und wir folgten den Friedenswächtern.
"Schau nicht zurück.", flüsterte ich ihm zu, und drückte seine Hand als er sich nochmal umdrehen wollte.
Meine Eltern weinten, beide.
Ich spürte es regelrecht und ich wollte nicht das Haymitch das wusste. Schließlich kannte er sie nur stark, wusste nicht welche Geschichte sich wirklich dahinter versteckte.
Die Leute warteten beim Zug.
Viele weinten um Haymitch, den kleinen, süßen Jungen, den alle vergötterten.
Manche sahen mich wütend an, andere schienen zu verstehen.
Wenige nickten mir sogar zu, als wenn sie mir danken wollten, dass ich ihn retten würde.
Das war wohl das beste, was ich an Zuneigung von diesen Menschen jemals bekommen konnte, und ich dankte ihnen innerlich, als ich in den Zug einstieg.
Als er los fuhr wusste ich, dass dies der Anfang vom Ende war.

Primrue Mellark | Ungewolltes ErbeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt