Primrue Mellark | Kapitel 27

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Ich saß auf dem Sofa.

Cato hatte mich aufgehoben, als würde ich nichts wiegen, und aufs Sofa gesetzt. Danach war er gegangen.

Seitdem saß ich hier.

Die Tränen waren schnell versiegt, zurück blieb bloß Leere. Wieder einmal. Ich fühlte mich nicht, als wäre das wenige salzige Wasser, welches ich vergossen hatte, genug gewesen, aber es schien einfach nichts mehr da zu sein. Ich war ausgelaugt. Zu viel war geschehen. Zu schnell. Es war wie ein Schockzustand in den ich verfallen war. Nur verschwommen bekam ich mit, wie Diener durch den Zug huschten, immer wieder vor mir anhielten und fragten, ob sie mir was bringen könnten. Ich konnte ihnen nicht einmal antworten. Eine Weile blieben sie dann jedes mal stehen und lächelten mich an. Dann wurde ihr Blick besorgt und sie gingen. Manchmal kamen sie zu zweit. Die Abstände, in denen sie versuchten, mich zu irgendetwas zu bewegen, wurden immer länger. Irgendwann hörten sie ganz auf.

Der Tag verstrich langsam. Es wurde immer dunkler im Zug aber keiner traute sich mehr in meinen Waggon.

So saß ich irgendwann in der Dunkelheit, sah draußen nur die Landschaft vorbeirauschen. Es wurde kühler, aber kein Regen setzte ein. Das war seltsam. In den wenigen Tagen hatte ich mich daran gewöhnt. Es war das Einzige, was immer gleich geblieben war. Auf was man sich in der Arena verlassen konnte. Der Regen würde kommen. Jetzt war selbst das weg. Mit jedem Meter, den ich mich weiter vom Kapitol entfernte, wünschte ich mehr, mich frei zu fühlen. Mich wieder wie früher zu fühlen. Aber es blieb bei dem Wunsch. Als wenn ein Teil von mir das Kapitol nie mehr verlassen würde.

Gebrochen. Das war ich. Nicht mehr ein Ganzes.

Ich nahm die Kälte nicht einmal wahr. Merkte nur, dass mein Körper zitterte. Aber da war kein Schmerz, nichts. Kein Zeichen, dass ich überhaupt noch am Leben war.

Ich fing an mich zu zwingen, meine Augen offen zu lassen. Nicht zu blinzeln und irgendwann kam er. Der Schmerz. Nur leicht, wie betäubt, aber er war da. Also doch noch nicht ganz tot.

Irgendwann kam Cato wieder. Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, aber es war schon eine Weile dunkel und meine Augen fühlten sich geschwollen an. Er setzte sich erst auf einen Hocker, mir schräg gegenüber. Aus dem Augenwinkel sah ich, das er zu mir sah. Ich konnte den Blick nicht erwidern. Wollte nicht. Zu anstrengend. Also saßen wir schweigend da. Er, ohne sich zu bewegen, auf seinem Hocker und ich, mit angezogenen Knien, die ich mit meinen Händen umschlungen hatte, auf dem Sofa. Immer noch dieses Kleid tragend, welches mich schmerzlich an meinen Verlust und meine Verantwortung erinnerte. Nicht einmal jetzt durfte ich ganz aufgeben.

Ich spürte, wie sich wieder Wasser in meinen Augen sammelte, aber es war nicht genug, als das die Tränen fließen könnten. In meiner Kehle war ein Kloß, der schmerzhaft brannte aber kein Laut wollte heraus. Als wenn etwas mich davon abhalten wollte, mich aus dieser Starre zu befreien. 

Cato stand auf und verschwand aus meinen Blickfeld. Egal. Ich wunderte mich nicht einmal, auch wenn ich etwas enttäuscht war, dass er mich nicht angebrüllt hatte oder Witze über mich machte, wie sonst.

Aber er hatte ja noch gar nicht aufgegeben. Das wusste ich, als auf einmal eine Decke über meine Schultern gezogen wurde und sein großer Körper sich neben mich setzte. Er bewegte sich nicht, saß nur neben mir, nah genug, dass sich unsere Schultern berührten. Aber mehr tat er nicht.

Trotz allem war dies der Auslöser den ich gebraucht hatte. Wärme. Zuneigung. Verständnis. Und wenn ich eins wusste, dann war es, dass Cato mich verstand und zwar besser als jeder andere.

Als die Tränen begannen, langsam überzulaufen und über meine Wangen zu rinnen, hob Cato ungelenk seinen Arm, als hätte er dies noch nie zuvor gemacht. Im nächsten Moment spürte ich seine Hand auf meiner Schulter. Beschützend. Und ich verlor die Kontrolle.

Die Geräusche die aus meinem Mund kamen waren nicht schön, nur verzweifelt.

Ich ließ mich an seine breite Brust sinken und weinte. Klammerte mich an sein Hemd, als wäre es das letzte, was mich vom Wahnsinn trennte. Wenn man es genau nahm, war es das auch. Ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre, wenn er in diesem Moment nicht da gewesen wäre. Aber Cato war da. Und auch wenn er wahrscheinlich noch nie in seinem Leben jemanden getröstet hatte, oder ihn jemanden in den Arm genommen hatte, schloss er instinktiv den Arm enger um mich und nahm auch noch den anderen, um mich zu umschließen. Warm und sicher. Auch wenn ich so viel verloren hatte, er war noch da.

Ich weinte lange, aber es war das erste mal, dass es sich nicht schmerzhaft anfühlte, sondern befreiend. Die Ängste, die Schmerzen. Alles wurde damit raus gespült. Die Lethargie, die mich erfasst hatte war gebrochen. Endlich musste ich nicht mehr um mein Leben fürchten und konnte endlich akzeptieren, was passiert war. Oder es zumindest versuchen.

Stück für Stück.

Als ich mich langsam beruhigte und nur noch vor mich hin schluchzte, fing Catos Hand langsam an, meinen Arm gleichmäßig zu streicheln. Zwar konnte ich nicht schlafen, aber es beruhigte mich. Gab mir ein paar Momente der Ruhe und Geborgenheit, wie ich sie so oft früher in den Armen meines Vaters gehabt hatte. Wie würden die beiden auf mich reagieren? Der ganze Distrikt? Würden sie mich alle wütend anstarren, oder mich sogar verfluchen, wenn ich ankam?

Diese Frage fesselte mich den ganzen Rest der Fahrt. Cato löste sich nicht von mir. Blieb einfach schweigend neben mir sitzen und hielt mich. Ließ mich meinen Gedanken nachhängen und tat dasselbe mit seinen eigenen.

Kurz bevor wir Distrikt 12 erreichten hatte mich die Vorstellung, wie mich gleich alle anschreien würden, so fest im Griff, dass ich, ohne mich zu wehren, aufstand. Cato verschwand kurz und eine Dienerin kam herein. Kleidung in der Hand

"Dein Mentor meinte, du würdest dich sicher gern umziehen.", erklärte sie mit einer kurzen Verbeugung, einem Zeichen des Respekts. Sie legte die Kleidung ab und verschwand wieder.

Es waren endlich wieder schlichte Kleider. Eine feste braune Hose und ein schwarzes Shirt, dazu eine passende braune Lederjacke. Zumindest würde ich danach wieder aussehen wie ich.

Gerade als ich angezogen war, kam Cato wieder in den Raum. Er schaute mich kurz an und lächelte leicht.

"Ich glaube das bist du, oder?"

Ich nickte vorsichtig, sagte aber nichts.

"Bereit für die Heimkehr?", fragte er und ich überlegte. War ich bereit?

Wieder tauchten die Bilder von wütenden Menschen aus Distrikt 12 auf. Ich presste meine Augen zusammen, um die Bilder loszuwerden und schüttelte den Kopf.

Cato war auf einmal bei mir, legte seine Hände auf meine Schultern.

"Noch bin ich hier."

Ich nickte und atmete noch einmal durch, bevor ich zur Tür ging. Der Zug wurde langsamer. Ich behielt die Augen geschlossen, wollte keine wütenden Blicke sehen. Sonst würde ich wahrscheinlich nie aussteigen.

Erst als ich hörte, dass die Türen sich öffneten, tat ich das gleiche mit meinen Augen. Ich hatte solche Angst vor ihrer Wut gehabt, dass ich andere Szenarien komplett ausgeschlossen hatte. Zum Beispiel das eine, was nun eingetreten war.

Das niemand da war um mich zu begrüßen.

Primrue Mellark | Ungewolltes ErbeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt