Primrue Mellark | Kapitel 23

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Da der Regen nicht nachließ, sonder eher stärker wurde, war dies Bestätigung genug für mich. Sie wollten die Arena verkleinern, damit die letzten fünf Tribute näher beieinander waren und übereinander stolperten.
Schweigend machten wir uns auf den Weg.
Wir gingen nebeneinander, nicht mehr hintereinander. Da war kein Haymitch mehr, den wir beschützen mussten. Ich vermisste ihn schrecklich und das einzige was mich weitermachen ließ, war das Wissen, dass ich bald bei ihm sein würde.
Meine Sicht war mittlerweile fast permanent eingeschränkt, was es schwieriger machte, die Umgebung im Auge zu behalten.
Auch wenn ich mir mehr Zeit mit Dillian gewünscht hätte, war es vielleicht gut, dass die Spielmacher uns zum Finale zwangen.
Schweigend gingen wir nebeneinander her, die Waffen, ich meine Dolche, er seinen Bogen, jederzeit kampfbereit.
Es war anstrengend, durch den mittlerweile komplett aufgeweichten Boden zu laufen und auch hier und da durch kleine entstandene Seen.
Da die Sonne nicht mehr durch die Wolkendecke drang, wurde es auch ständig kälter.
Als wir den Baum von unserer ersten Nacht in der Arena erreichten, war ich komplett durchgefroren und auch Dillian sah blass aus.
Es dauerte eine Weile, bis wir es schafften, das Seil wieder über einen Ast zu werfen. Schlimmer war es jedoch hochzukommen.
Ich schaffte es nur, weil mein Drang ins Trockene zu kommen so groß war.
Wir wechselten uns mit der Wache ab.
Nie länger als eine oder zwei Stunden.
Aneinander gedrängt saßen wir da und hofften auf einen Kanonenschuss. Es war nicht so, dass ich jemanden den Tod wünschte, aber ich wusste nicht, ob ich noch drei weitere Menschen töten könnte, bevor ich aufgab.
Die Nässe und Kälte saß mittlerweile so tief, dass ich Wärme überhaupt nicht mehr spürte, trotz Decke, Schlafsack und Dillian neben mir.
Allein wäre ich wahrscheinlich gestorben.
Schlagartig musste ich an Lupo denken.
Es war ein Wunder, dass er noch lebte, wo er doch schon aufgegeben hatte. Er war allein und ich verstand den schmerzhaften Verlust den er erlitten hatte, nur zu gut. Wie nah die beiden sich genau gestanden hatten wusste ich nicht, aber sie war ihm wichtig gewesen. Sehr sogar. Ob er sich auch die Schuld an ihrem Tot gab? Fühlte er ähnlich wie ich?
Gedanken dieser Art kreisten die ganze Nacht in meinen Kopf herum. In den kurzen Stunden in denen ich schlief, hatte ich keine weiteren Alpträume.
Als es wieder heller wurde, beschlossen wir, dass wir weitergehen müssten.
Es hatte keinen Sinn irgendetwas herauszuzögern. Der Kampf würde stattfinden und es war besser, wenn wir jetzt zum Füllhorn zurück gingen, als bis zur letzten Sekunde zu warten und uns dann durch Wasser kämpfen, um auf die Erhöhung zu kommen.
Mit jedem Schritt schlug mein Herz ein wenig schneller. Ich war schwach, müde und hatte Schmerzen, aber ich durfte nicht aufgeben. Nicht noch einmal versagen.
Am Waldrand blieben wir stehen. Uns trennten nur noch wenige Meter vom Füllhorn. Noch war niemand zu sehen. 
"Bist du bereit?", fragte Dillian und ich schaute ihn an.
Alles in mir schrie "Nein!", aber ändern würde das auch nichts, also nickte ich nur. Unsere Taschen legten wir ab. Wenn es nach den Spielmachern ging, würden wir sie nicht mehr brauchen.
In wenigen Stunden wäre entschieden, wer der Gewinner ist.
Nur noch unsere Waffen bei uns, machten wir uns langsam auf den Weg zum Füllhorn.
Der Regen prasselte unaufhörlich weiter.
Gerade als wir den Abhang erklommen hatten sah ich Bewegung auf der anderen Seite.
Crash und Carra.
Sie waren nur eine Sekunde nach uns oben und wir starrten uns gegenseitig an. Beide hatten sie riesige Schwerter in den Händen.
Es waren immer noch gut dreißig Meter zwischen uns.
Dillian hob den Bogen und zielte.
Als er jedoch bemerkte, dass sie keine Fernwaffen hatten, senkte er ihn wieder.
Ich verstand.
Wir waren keine Mörder.
Die beiden schienen ebenfalls zu verstehen, dass wir nicht auf sie schießen würden und so bewegten wir uns langsam auf einander zu.
Immer nur einen Schritt.
Sie taten einen, wir taten einen.
Niemand ließ die anderen aus den Augen, alle warteten auf eine verräterische Bewegung. Crash stand mir gegenüber, Carra Dillian aber bei den beiden machte es keinen großen Unterschied, da Carra nicht wirklich kleiner oder zierlicher war als ihr Zwillingsbruder war.
Es war ein seltsames Gefühl den Tributen des Distrikts 11 gegenüberzustehen, da meine Mutter immer gut über ihn redete.
Rue kam von dort.
In früheren Spielen wäre es wahrscheinlich ein Phänomen gewesen, dass am Ende noch drei Tribute aus unseren Distrikten gestanden hätten, aber nicht in der heutigen Zeit.
Zehn Meter voneinander entfernt, blieben wir stehen.
Keiner bewegte sich mehr. Dillian hatte im laufen ebenfalls auf sein Messer gewechselt. Irgendwie wirkten unsere Waffen gegen ihre lächerlich, aber ich wusste, welche Vorteile meine kleinere Waffe hatte und welche Nachteile ihre. Ich hoffte, dass auch die Soldaten einmal darüber aufgeklärt worden waren, aber irgendwie machte ich mir da bei Dillian keine Sorgen.
Ein grotesker Moment verstrich. Wie wir da standen, uns gegenseitig anstarrend, bereit für den Angriff.
Alle auf ein stummes Zeichen wartend.
Ich kann nicht sagen, was es war, aber als wäre wirklich ein Gong geschlagen wurde, stürmten wir aufeinander zu.
Ich nutzte meinen Schwung und ließ mich auf die Knie fallen, wodurch ich weiter rutschte und an Crash, der auf meiner ehemaligen Kopfhöhe zuschlug sein Ziel verfehlte.
Ich versuchte ihn von den Beinen zu bringen, aber er war trotz seiner Größe unglaublich schnell.
Der Kampf war ausgeglichen und alles andere als schnell. Es würde darauf ankommen, wer länger durchhielt.
Da Crash kaum sichtbare Verletzungen hatte, schien es für mich nicht so gut zu stehen. Ausweichen, zuschlagen, ausweichen, parieren.
So ging es eine ganze Weile. Bis ich auf dem rutschigen Boden den Halt verlor.
Ich landete schmerzhaft auf meinen Knien und konnte gerade noch so nach links ausweichen, um nicht vom Schwert getroffen zu werden.
Mein Halt wurde jedoch nicht besser und als Crash ein weiteres mal ausholte, rettete mich ein Schrei.
Ein Schrei von seiner Zwillingsschwester.
Auch sie war gestürzt oder von Dillian zu Fall gebracht worden.
Sie hielt sich mit schmerzverzerrten Gesicht das Bein und reagierte nicht einmal auf seine Aushohlbewegung.
Crash schien mich gar nicht mehr zu sehen und stürmte auf meinen Verbündeten zu, der auf Carra konzentriert war.
Es ging alles so schnell, dass ich es mit meinen verletzen Kopf kaum wahrnahm.
So wie ich verstanden hatte, was mein Gegner vorhatte versuchte ich hochzukommen, war mir aber im gleichen Moment bewusst, dass ich es nicht rechtzeitig schaffen würde.
Gerade als Crash nur noch einen Meter entfernt war und nach vorne zu stechen versuchte, stand auf einmal Lupo, mit der Waffe von Carra in der Hand vor ihm. I
ch hatte keine Ahnung, wo er so schnell her aufgetaucht war, oder was er hier machte.
Ich starrte nur entsetzt auf die Klinge, die aus Crashs Rücken ragte. Lupo und mein Gegner schauten sich gegenseitig in die Augen.
Crash schien verwirrt, bevor er umfiel, immer noch das Schwert in seinem Körper. Als er mir nicht mehr die Sicht auf Lupo versperrte, sah ich, dass auch aus ihm die Waffe ragte. Sie waren ineinander gerannt.
Aber warum hatte Lupo -?
Ich bekam nur halb mit, wie Dillian Carra ein schnelles Ende bereitete, die Waffe fallen ließ und umdrehte, um zu sehen, was da hinter ihm gerade passiert war.
Er reagierte schnell genug, um Lupo noch abzufangen.
Endlich auf den Beinen lief ich zu den beiden und ließ mich neben den Tribut aus Distrikt 5 auf die Knie fallen.
"Warum?", fragte ich nur verwirrt. "Warum hast du das gemacht? Du hättest gewinnen können. Einfach abwarten, wie wir uns umbringen und dann die Überraschung ausnutzen. Keiner von uns hat dich bemerkt!"
Er versuchte zu lächeln und sagte mit immer noch fester Stimme: "Dachte ich bin dir noch was schuldig...", er hustete Blut, "Du hast versucht Mira zu retten, also musste ich zumindest versuchen, ihn zu retten", Lupo machte eine Kopfbewegung zu Dillian und sprach weiter als wäre dieser gar nicht da. "Scheint geklappt zu haben.", spaßte er.
Dann wurde er ernst und sein Blick bohrte sich regelrecht in den meinen.
"Ohne sie will und kann ich nicht leben. Nicht mit der Schuld, nicht mit dem Wissen, wie sie sterben musste. Aber ich konnte nicht einfach daliegen und auf den Tod warten. Ich wollte noch jemanden retten, der es Wert ist. Das weißt du am besten, 12, nicht wahr?"
Ich spürte Dillians Blick auf mir.
Ja, das wusste ich am besten und nun wusste auch er, was ich vorhatte. Noch beachtete ich ihn jedoch nicht.
Lupo ging vor.
Auch wenn ich den Jungen nicht kannte, tat er mir Leid und ich würde bei ihm bleiben. Auch Crash atmete noch leicht ein und aus und schaute auf uns.
Sein Blick war ängstlich und wirkte nicht wie der eines 18 jährigen.
Warum musste es so sein? Wie hatten die früheren Tribute, die gewonnen hatten damit leben können?
Ich kroch etwas weiter vor, um mich zwischen die beiden zu setzen. Beide konnten mir nichts mehr tun.
Als ich meine Hand nur leicht in Richtung von Crash streckte ergriff er sie fast panisch sofort. Gott wann war es endlich vorbei?
Ich wollte nicht mehr die sein, die daneben saß und versuchen musste den Sterbenden die Angst zu nehmen.
Auch wenn er vor wenigen Sekunden noch versucht hatte mich zu töten, wusste ich, dass es nichts persönliches war.
Ich fing an, leicht mit den Daumen über seine Hand zu streicheln während ich mit meiner anderen Hand die von Lupo nahm.
"Denkst du ich sehe sie wieder?", flüsterte Lupo, kurz davor die Augen für immer zu schließen.
Ich schaute ihn an und versuchte mit Überzeugung zu sprechen.
"Ja, sicher. Sie wartet.", ich wandte mich zu Crash, "Genau wie deine Schwester auf dich. Sie musste nicht leiden."
Lupo lächelte und ich sah, wie Crashs Lippen ein "Danke" formten, auch wenn kein Ton mehr aus ihm kam.
Dann passierte etwas, das ich nicht erwartet hätte und sicher auch kein Mensch außerhalb der Arena. Die beiden Sterbenden schauten sich in die Augen und lösten ihre Hände aus meinen.
Mit letzter Kraft griffen sie nacheinander und umfassten ihre Arme. Sie verziehen sich.
So erstarrten sie.
Das Leben verschwand einfach aus ihnen und ich hörte drei Kanonenschüsse.
Jeder einzelne traf mich innerlich.

Primrue Mellark | Ungewolltes ErbeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt