Primrue Mellark | Kapitel 22

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Am nächsten Morgen wachte ich in den Armen von Dillian auf. Er hielt mich nah und fest bei sich.
Dillian war eingeschlafen.
Ich bewegte mich nicht. Wollte ihn nicht wecken.
Ich genoss einfach die Nähe zu ihm, die sich seit dem Abend eingestellt hatte. Genoss es, sein Herz gleichmäßig schlagen zu hören. Ihm einfach beim schlafen zuzusehen.
Der Sturm außerhalb der Höhle hatte sich wieder gelegt, aber es regnete immer noch.
Seltsam.
So früh hatte es noch nie geregnet.
Um besser zu sehen, versuchte ich nur leicht meinen Kopf zu heben, doch die kleine Bewegung reichte aus, um Dillian zu wecken.
Erst griffen seine Arme fester um mich, dann gingen seine Augen langsam auf. Erst schien er nicht genau zu wissen wo er war, doch dann erkannte mich. Ein wundervolles Lächeln legte sich auf seine Züge.
"Morgen", sagte ich sanft und kuschelte mich wieder an ihn. Er drückte mir einen Kuss auf den Kopf und erwiderte: "Morgen"
Wir lagen da, als wäre es das normalste auf der Welt und kurz wünschte ich mir das es wirklich wahr werden konnte. Aber wir waren in den Spielen. Verschiedene Distrikte. Nur einer von uns beiden könnte im besten Fall überleben.
Ich würde sterben, Dillian überleben.
Würde er meine Eltern besuchen? Mein Grab?
Wahrscheinlich schon.
Und dann müsste er mit seinem Leben weiterleben. Würde eine Frau heiraten. Kinder kriegen. Eine Familie haben. Nur, dass ich nicht diese Frau sein würde.
Wieder erhob ich mich langsam und diesmal ließ er mich los, auch wenn er mich verwirrt musterte.
Ich setzte mich nur auf, wollte nicht von ihm abrücken. Der Gedanke wollte nicht mehr aus meinem Kopf.
Dillian war perfekt. Zumindest für mich. Aber es konnte nie ein 'wir' geben. So nah wir uns hier auch waren, irgendwann dürfte es nur noch Einen geben.
Selbst wenn sich alle anderen gegenseitig ausschalten würden, am Ende würden wir uns gegenüberstehen und einer musste sterben.
Wieder traten Tränen in meine Augen. Wer hätte gedacht, dass diese Spiele aus mir eine Heulsuse machen würden.
Aber zu viele Gefühle in zu wenig Zeit. Verluste, Freundschaften, Liebe...
Oh Gott, jetzt dachte ich schon über Liebe nach.
Dillian und ich mochten uns. Die Chemie stimmte. Aber man konnte wohl sagen, dass wir uns zur falschen Zeit am falschen Ort kennengelernt hatten. Die Hungerspiele waren wohl nicht das Richtige für die erste Liebe.
War es das? War ich in Dillian verliebt?
Ich wusste es nicht.
Ich wollte nicht das er stirbt, wollte das er lebt und glücklich wird aber ich hatte noch nie darüber nachgedacht.
Im Distrikt hätte mich nie jemand gefragt. Niemand wollte mich näher kennenlernen und weggehen war auch keine Option. Irgendwie hatte ich mich damit abgefunden, dass ich allein sein würde.
Ich hatte meine Familie, das hatte mir damals gereicht.
Aber jetzt war ich hier mit Dillian. Allein.
Ich merkte, wie er sich neben mir bewegte.
Als er sich aufsetzte, drehte ich den Kopf weg. Er sollte nicht denken, dass ich immer nur weinte.
Das war nicht ich.
Normalerweise war ich wütend, aggressiv und schnell. Dad hatte mich nicht umsonst als Kind immer Wildkatze genannt.
Hier bei Dillian schien es, als wenn diese zu einer zahmen Hauskatze geworden wäre, die sich nur nach Streicheleinheiten sehnte.
"Primrue?", fragte Dillian leise neben mir. Ich nutzte meine Haare um mein Gesicht vor ihm zu verbergen und erwiderte: "Hm?"
"Was ist los?"
"Nichts. Was soll los sein?", entgegnete ich und wollte aufstehen, aber er hielt mich am Arm fest.
Als er mich zurück zog, verlor ich das Gleichgewicht und landete auf seinem Schoß.
"Was ist los?", fragte er noch einmal und ich lief rot an. Ich wollte es nicht, aber es passierte einfach.
"Nur...nur dumme Gedanken die mir durch den Kopf gegangen sind.", erklärte ich, ohne ihn anzusehen.
"Und was für Gedanken sind das, die dich zum weinen bringen?", bohrte er nach.
"Die Zukunft", flüsterte ich nach einer Weile. "Wir werden nicht beide hier raus kommen. Das weißt du, das weiß ich, aber..."
Ich wusste nicht wie ich ihn erklären sollte, dass ich mich bei ihm wohlfühlte. Dass ich bei ihm keine Angst hatte, mich einfach fallen lassen konnte und mich beschützt fühlte.
Sagen konnte ich es ihm nicht, aber zeigen.
Ich küsste ihn noch einmal. Erst sanft. Und als er ihn erwiderte, versuchte ich ihm so zu zeigen, was ich fühlte.
Erst nach einer gefühlten Ewigkeit unterbrachen wir unseren Kuss. Da ich nicht wusste, was ich machen sollte, schmiegte ich mich noch enger an ihn und vergrub meinen Kopf zwischen seiner Schulter uns seinem Hals.
Dillian akzeptierte es und drückte mich an sich. Hielt mich im Arm, ohne zu sprechen.
Wir lauschten einfach nur den Regen und ich wünschte, so würde es immer sein. Einfach nur von ihm gehalten werden. Keine Sorgen haben. Nicht an den Morgen denken.
Aber irgendwann mussten wir uns von einander lösen und ich wollte wenigstens einmal die treibende Kraft sein.
Also löste ich mich langsam von ihm, gab ihm noch einen Kuss auf die Wange und stand auf. Dieses mal ließ er mich gehen.
Ich ging nur zum Ausgang der Höhle.
Unterwegs ließ ich meine Jacke fallen und zog auch mein Oberteil aus.
Keine Ahnung, was die Leute im Kapitol oder Dillian davon dachten aber der Regen war gerade perfekt.
Ich stellte mich einfach nach draußen und ließ das Wasser über mich laufen. Blut und Dreck wurden von mir herunter gespült. Ich versuchte gleichzeitig meine Verwirrung über meine Gefühle abzuspülen.
Es war egal, was ich empfand.
Ob es Liebe oder etwas anderes war. Es bedeutete nichts.
In ein paar Tagen würde ich Tod sein, also sollte ich lieber die mir noch bleibende Zeit genießen.
Wir waren nur noch fünf und ich wusste nicht, wie viel Zeit die Spielmacher uns noch geben würden, bevor den Menschen im Kapitol langweilig werden würde.
Ich stand so lange draußen bis ein Zittern einsetzte. Das nahm ich als Zeichen um wieder reinzugehen. Gleich hinter dem Eingang stand Dillian, ein improvisiertes Handtuch in der Hand.
Lächelnd nahm ich es ihm ab und trocknete mich ab.
Am Feuer ließ ich meine Kleidung trocknen und saß eine halbe Stunde später zum ersten mal wieder komplett trocken und einigermaßen sauber da.
Es war herrlich.
Wir redeten erst nicht viel.
Dillian ging zwischendurch neues Holz suchen, welches er danach zum trocknen ans Feuer legte.
Den ganzen Tag regnete es mal stärker, mal schwächer.
Es wollte einfach nicht aufhören.
Dadurch sank auch die Temperatur in der Höhle und es dauerte nicht lange, bis wir wieder zusammen im Schlafsack eingekuschelt waren, um uns warm zu halten. Da das Schweigen dadurch unangenehm wurde und ich nicht über die Zukunft reden wollte, begann ich über etwas anderes zu reden.
Die Vergangenheit.
Wie ich aufgewachsen war, wie ich mit Haymitch gespielt hatte. Einfach alles. Dillian hörte aufmerksam zu und schaute mir dabei die ganze Zeit in die Augen, so dass ich ganz vergaß, dass auch ganz Panem meine Geschichte mithörte. Und als ich müde vom Reden wurde, fing er an zu erzählen. So wechselten wir uns ab und brachten so den Tag herum.
Als die Hymne den Abend einläutete, standen wir auf und gingen zum Eingang.
Automatisch lehnte ich mich an ihn und er nahm mich in die Arme.
So standen wir und warteten auf das Bild des Toten, der in der Nacht gestorben war. Wir hatten keine weiteren Kanonenschüsse gehört, aber die Arena war groß.
Vielleicht hatten wir etwas verpasst.
Das Gesicht des Jungen aus Distrikt 10 wurde eingeblendet.
Danach keines mehr.
Er war also in der Nacht gestorben. Ob irgendwie durch das Unwetter, oder durch einen der anderen Tribute wussten wir nicht.
Wir gingen wieder zurück und setzten uns schweigend hin.
Der Junge war weggelaufen, hatte seine Allianz im Stich gelassen.
Ich wusste nicht, was besser war.
In diesem Sturm allein zu sterben, von uns getötet oder durch eine dieser Mutationen.
Haymitch tauchte wieder vor meinen inneren Auge auf. Wie er von den kleinen Wesen regelrecht aufgespießt wurde.
Ich hielt mir den Kopf und versuchte die Bilder aus meinen Kopf zu verbannen, als ich Dillian besorgt hörte: "Alles okay? Tut dein Kopf wieder weh?"
Ich schüttelte den Kopf, auch wenn es nicht stimmte.
Er tat tatsächlich weh. Ständig.
Der Schmerz war schon fast normal für mich geworden, ich konnte ihn regelrecht ausblenden. Das größere Problem war, dass meine Sicht eingeschränkt war. Wie als wenn ich nur durch einen Tunnel sehen konnte. Da die Dauer dieser Sehschwäche immer länger anhielt war mir klar, dass etwas nicht stimmen konnte. Aber ich sagte ihm es nicht. Ich würde schon irgendwie durchhalten.
Auch wenn ich ihn davon nichts sagen konnte, konnte ich ihm doch von meinen Bruder erzählen: "Ich hab nur wieder Haymitch vor mir gesehen. Ich habe mich gefragt, ob der Junge aus 10 vielleicht besser dran gewesen wäre mit seinen Kameraden zu sterben oder eben da allein im Wald."
"Bald ist es vorbei.", ermutigte mich Dillian.
Ich wusste, dass es sein Plan war, mich jetzt hier lebend raus zubringen und ich würde ihn nicht auf den Gedanken bringen, dass ich etwas anderes plante.
Also lächelte ich ihn nur an und nahm das Essen entgegen, welches er mir hinhielt.
Der Regen wurde wieder stärker, der Sturm setzte wieder ein.
Keiner würde nach gestern bei diesem Wetter hinausgehen um andere Tribute zu jagen. Besonders, da wir im Umkreis genug Fallen verteilt hatten.
Also beschlossen wir beide zu schlafen. Wie selbstverständlich legten wir uns zusammen hin und als wenn wir einander suchen würden, rutschten wir aneinander bis kein Haar mehr zwischen uns passte.
Solange ich ihn hatte, würde ich ihn festhalten.
Am nächsten Tag änderte sich an den Wetterverhältnissen nichts.
Dauerregen.
Wir blieben den Tag wieder in der Höhle.
Sie war etwas höher gelegen und somit perfekt.
Langsam schlich sich aber eine Ahnung in unsere Herzen.
Keine Kanonen. Keine Toten.
Alle hatten wir richtige Verstecke gefunden. Hielten uns zurück. Nichts was den Spielmachern, sonderlich gefallen würde.
Als ich am nächsten morgen aufwachte, lag Dillian nicht mehr neben mir.
Ich richtete mich auf und sah ihm am Höhleneingang stehen. Es regnete noch immer.
Langsam ging ich zu ihm und schmiegte mich an seinen Rücken.
"Wenn es weiter so regnet ist bald alles unter Wasser.", prophezeite er.
Ich umarmte ihn von hinten und erklärte: "Nicht alles."
Mir war klar, dass er wusste, was ich meinte.
Er ergriff meine Hände und seufzte.
"Das Füllhorn liegt am höchsten. Sie wollen uns am Füllhorn zusammentreiben."

Primrue Mellark | Ungewolltes ErbeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt