Primrue Mellark | Kapitel 8

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Das Abendessen verging fast komplett schweigend.
Cato schaute uns nur kurz an, schien festzustellen, dass wir noch lebten und ging zum Tisch. Ob er über seine Feststellung froh war, wusste ich nicht.
Auch Effie war unglaublich still. Vielleicht lag es daran, dass Cato wieder da war, oder die beiden hatten eine Abmachung gemacht. Er fing an Mentor zu spielen und sie hielt den Mund.
Dafür fragte Cato nach einer Weile: "Wie war der erste Tag?"
"Gut", antworteten Haymitch und ich gleichzeitig.
Anscheinend auch etwas zu schnell, da er uns argwöhnisch weiter anschaute, als wollte er mehr wissen. Unauffällig stupste ich meinen Bruder unter dem Tisch an, um ihn zu signalisieren hier zu übernehmen. Er konnte so etwas einfach besser als ich.
"Na ja, wir haben uns alle Stationen angesehen, ein bisschen überall probiert aber nicht wirklich jemanden gezeigt was wir können."
"Und das wäre?", wollte Cato wissen.
"Ich bin ganz gut im Bogenschießen und Jagen. Primrue ist dagegen gut mit Messern und im Nahkampf."
"Das hab ich gemerkt.", warf er ein.
"Wir haben eine ganze Weile bei den Gewichten verbracht."
"Nicht schlecht. Ihr denkt ja sogar mit. Kraft ist eindeutig, was euch fehlt.", erklärte unser Mentor.
Faszinierend.
Er konnte sogar ein Lob wie eine Beleidigung klingen lassen.
"Du musst es ja wissen, als Soldat.", konterte mein Bruder und irgendetwas veränderte sich im Blick von Cato.
Oh oh, dünnes Eis.
"Ich bin keiner." ,gab Cato leise von sich, stand auf und ging in sein Zimmer.
Erst als sich seine Tür schloss, schienen wir alle gleichzeitig auszuatmen.
"Na, das lief doch blendend?", freute sich Effie.
Ich hatte keine Ahnung, ob sie es sarkastisch meinte, oder nicht. Wusste Effie überhaupt, was Sarkasmus war?
Wir antworteten zumindest nicht, und verfielen wieder in schweigendes Essen. Gott sei Dank ging auch unsere Betreuerin bald auf ihr Zimmer.
"Ich geh dann später noch ein bisschen aufs Dach. Frische Luft schnappen.", erklärte ich vorsichtig, da ich mir sicher war, dass auch hier überall Kameras waren.
"Soll ich mitkommen?", fragte Haymitch.
Guter Junge, er hatte verstanden.
"Nein, danke. Ich will ein bisschen allein sein. Werde nicht zu lange bleiben. Halbe Stunde oder so."
Er nickte und verstand. Wenn ich um halb Eins nicht wieder da wäre, würde er hochkommen.
"Ich geh schlafen.", teilte mein Bruder mir mit und ging in sein Zimmer.
Dann war ich allein.
Da es noch nicht Zwölf war, setzte ich mich auf das Sofa und starrte vor mich hin.
Keine gute Idee.
Alle möglichen Ideen schossen mir durch den Kopf.
Was würde da oben passieren? Von allen möglichen Kämpfen, bis hin zu Wachen die mich erwarteten, oder einfach gleich einen umgedrehten Kopf. Ob man davon viel mitbekam?
Bevor ich noch wahnsinnig wurde, fing ich lieber an, auf und ab zugehen.
Dumme Gedanken kamen aber immer noch. Also fing ich an meine Schritte zu zählen.
Das reichte und lenkte mich ab.
Fast so sehr, dass ich die Zeit übersah.
Knapp vor Zwölf schaute ich auf die Uhr und erschrak. Ups.
Ich beeilte mich, um aufs Dach zu kommen und hoffte noch vor ihm da zu sein. Natürlich war ich es nicht.
Da stand er schon.
An die Brüstung gelehnt und schaute auf die Stadt hinab. Er beachtete mich gar nicht. Jetzt wäre der perfekte Moment, das Messer zu nehmen und zuzustechen. Ich war nicht gut im schleichen, aber schnell und die Waffe konnte ich noch nicht ablegen, also...
"Wenn du mich abstechen willst, solltest du leiser Atmen. Oder war das dein Plan? Mich hier oben beseitigen?", sagte Dillian ohne zu mir zu schauen.
Ich schnaubte kurz wegen dieser Aussage.
"Ja klar", begann ich, "weil es ja so viel Sinn macht, zu riskieren von den Spielmachern erwischt zu werden, nur um zu hoffen, dass du es siehst und mich abfängst. Dank meiner besonderen Menschenkenntnis habe ich dann natürlich auch noch gleich gewusst, dass du mich nicht einfach verpfeifen würdest, sondern komischerweise willst, dass wir uns auf dem Dach um Mitternacht treffen. Überhaupt, was soll das? Bei Mitternacht auf dem Dach?"
Endlich drehte er sich um und grinste.
"He, sie kann ja sogar ganze Sätze sprechen. Man muss dir also nur drohen, um von dir beachtet zu werden. Gut zu wissen."
Ich war verwirrt und müde, wollte einfach nur ins Bett. Und könnte er bitte mal mit diesen dämlichen Grinsen aufhören?
Ich fühlte mich, wie ein Idiot.
"Was willst du, verdammt?", fragte ich barscher als gewollt, doch er ignorierte es einfach.
"Schon mal hier oben gewesen?", fragte er.
Er schaute mich mit seinen blauen Augen an.
Wow, seine Augen waren toll... Was hatte er gleich nochmal gefragt?
"Komm, schau es dir an!", forderte Dillian mich mit einem Nicken in Richtung Stadt auf.
Da es ihm nichts gebracht hätte, mich vom Dach zu werfen, ging ich vorsichtig auf ihn zu.
Vorne bei der Brüstung hörte man ein ganz leisen Brummen, welches von dem Kraftfeld kommen musste.
Er hatte nicht übertrieben.
Der Ausblick war gigantisch. All die Lichter.
Der Ausblick war auch schon aus unserer Etage schön, aber hier, wo man den Wind spüren konnte und die Geräusche von der Straße nur wie ein Flüstern zu einem heran drangen, war es paradiesisch.
Trotzdem vergaß ich nicht, mit wem ich hier war. "Was willst du?", fragte ich nochmal, diesmal aber etwas netter. Er lehnte sich über das Geländer neben mich, wodurch wir einigermaßen auf der gleichen Höhe waren, wenn ich gerade stehen blieb. Als ich schon dachte, Dillian würde mir wieder nicht antworten, hörte ich ihn leise sagen: "Wiedergutmachung."
"Was? Gegenüber wem?", stammelte ich verwirrt. 
"Euch.", erklärte er ruhig.
Ich schaute ihn nur noch verwirrter an, als ich schon war.
"Ich kenne die Geschichte meines Dads. Distrikt 12, deine Mum und Dad, die Rebellion, die Bombe. Alles. Er hat sich immer Vorwürfe gemacht, aber war auch zu stur um zu deinen Eltern zu gehen. Ich weiß, dass er meine Mutter geliebt hat, auf seine Art, aber er konnte es nie ganz vergessen. Das Ende der Rebellion hat ihn kalt werden lassen. Als hätte er einfach all seine Emotionen ausgeschaltet. Früher hab ich das nie verstanden, aber jetzt schon."
Ich ließ seine Worte auf mich wirken, schaute ihn immer noch nicht an, auch wenn er mich anstarrte.
Dillian wartete darauf, dass ich etwas dazu sagte.
"Das ist nicht unser Kampf, sondern ihrer."
"Denkst du? Denkst du das wirklich? Vielleicht ist es ihr Kampf, aber er betrifft uns doch auch."
Meine Gedanken kehrten zu meinen Eltern zurück.
Wie oft sah ich meine Mutter in die Ferne starren. Mein Vater beobachtete sie oft dabei. In seinen Augen war Traurigkeit zu sehen, aber er nahm sie jedes mal in den Arm und wartete, bis sie wieder zu ihm zurückkehrte. Erst Dillians Worte machten mir etwas klar. Sie starrte immer in Richtung der Gleise, wartete das er doch noch wiederkam. Aber er würde es nicht tun.
"Vielleicht hast du Recht.", gab ich zu, "Aber das ändert nicht die Tatsache, dass wir daran nichts ändern können. Selbst wenn wir nicht hier wären. Wir könnten deinen Vater nicht zwingen, besonders weil das meine Mutter nur noch mehr verletzen würde."
"Das ist mir klar. Deswegen werde ich zumindest dafür sorgen, dass deine Eltern eins ihrer Kinder wiederbekommen werden. Eine kleine Entschuldigung."
"Dein Leben als kleine Entschuldigung? Findest du das nicht ein bisschen übertrieben?"
Er lachte. Er lachte? Lachte Dillian mich gerade aus?
"Was...Was ist daran so komisch?", stammelte ich.
Warum war ich in seiner Gegenwart immer so verunsichert? Durch Haymitchs Training und Spielchen war ich mir meiner Sache immer ziemlich sicher, aber er brachte mich immer wieder aus der Fassung. Als er nicht aufhörte zu lachen, tat ich etwas, was ich noch nie getan hatte.
Ich trat ihn mit aller Kraft auf den Fuß.
Zumindest half es gegen das Lachen.
"Ich mein ja nur. Du findest meine Aktion übertrieben? Sagt die, die sich freiwillig für ein fremdes Mädchen gemeldet hat!", erklärte er seinen Lachanfall.
"Du hast dich doch selbst freiwillig gemeldet!", konterte ich, doch dabei fiel mir etwas ein.
"Warte. Zu der Zeit wusstest du noch gar nicht, dass Haymitch ausgewählt wurde und ich freiwillig gegangen bin. Du konntest das genauso erst im Zug sehen, wie wir. Warum bist du also für den kleinen Jungen eingestiegen? Ich meine, selbst wenn Paylor sich entscheidet, ab jetzt wieder jedes Jahr Hungerspiele abzuhalten, dies wäre dein erstes und letztes Jahr gewesen. Du wärst sicher gewesen!"
"Ich kannte den Kleinen. Jeder tut das in Distrikt 2. Seine Familie ist arm. Sie haben alles Geld, was sie hatten dafür ausgegeben, dass ihr ältester Sohn, ein Freund von mir, eine Ausbildung zum Soldaten machen konnte. Unsere Ausbildung beginnt mit sechs Jahren. Kurz danach wurde sein kleiner Bruder geboren. Er war von Anfang an schwach und kränklich, aber die Eltern hatten kein Geld. Auch wenn es nicht so aussieht aber ihm geht es mittlerweile etwas besser, seid mein Freund mit der Ausbildung fertig ist und seinen kompletten Sold seiner Familie schickt. Als er aufgerufen wurde, und ich sah wie Miles, mein Freund, ihm nach vorne half, ohne etwas dagegen tun zu können, als Soldat, setzte irgendwas in meinen Kopf aus. Ich war erst wieder richtig da, als ich den Kleinen Miles in die Arme gedrückt hatte und ihm sagte, dass er ihn zu seinen Eltern bringen sollte. Aber die Dankbarkeit in Miles Gesicht, zeigte mir, dass ich wohl das Richtige gemacht hatte. Als ich dann sah, dass ihr beiden die Tribute eures Distriktes kam, dachte ich mir, dass ich da auch noch ein bisschen aufräumen kann."
Während seiner Erzählung, schaute ich Dillian an. Gott, was musste der Bruder von dem kranken Jungen durchgemacht haben? Er konnte selber nicht für ihn einspringen und musste ihn auch noch nach vorne bringen.
Und wie ich, war Dillian einfach nach vorne gelaufen, ohne wirklich darüber nachzudenken.
Die Konsequenzen.
Aber als er dann dort stand, hatte er noch die Chance zu gewinnen. Er könnte es schaffen. Muskulös und Groß wie er war, war er sicher einer der Favoriten, der Spielmacher.
Aber er wollte es nicht, weil er einen von uns nach hause bringen wollte? Weil er seinen Vater wachrütteln wollte? Für ihn einstehen?
Ich konnte nichts sagen, starrte ihn nur weiter an.
Eine Weile erwiderte er meinen Blick bevor er fragte: "Und? Auch wenn ich sie nicht wirklich brauche, habe ich jetzt die Erlaubnis, dich zu beschützen während der Spiele?"
"Nein", schoss es aus meinem Mund. Sein Blick bekam etwas verwirrtes. "Wenn du dein Versprechen einhalten willst, solltest du nicht mich beschützen, sondern Haymitch."
"Du willst also wirklich für deinen kleinen Bruder sterben?"
"Ja."
Ich zögerte nicht einmal eine Sekunde mit meiner Antwort, was selbst Dillian zu überraschen schien. Er überlegte kurz, bevor wieder ein Lächeln sein Gesicht erhellte.
"Fein. Beschützen wir den Kleinen also gemeinsam."
Gemeinsam.
Das hörte sich in meinen Ohren seltsam an, aber gut.
Es nahm die Last.
Ich war nicht mehr allein in meinem Kampf.
"Wenn du es wagst uns zu hintergehen, werde ich dich persönlich töten.", drohte ich ihm und er sagte mit gespielt ernsten Gesicht: "War mir klar."
Dann lachte er und ich musste mitlachen.
Um Punkt halb eins war ich wieder in unserer Etage und schlich in mein Zimmer.
Leise machte ich die Tür auf und hinter mir wieder zu.
Ich bekam fast einen Herzinfarkt als ich in der Dunkelheit eine Gestalt sitzen sah.
"Primrue, ich bins", erklärte Haymitch, als ich schreckhaft zusammengezuckt war.
Meine Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit und ich sah ihn nun deutlicher.
"Was machst du denn hier?", fragte ich immer noch mit rasenden Herzen.
"Schauen, ob es dir gut geht.", erklärte er und schaute mich mit einem unglaublichen Hundeblick an.
Da konnte ich ihn nicht einmal böse sein. Ich ging zu ihm und setze mich auch aufs Bett.
"Alles Bestens!"
"Wirklich?"
"Wirklich. Wir scheinen eine Allianz zu haben."
"Mit Dillian? Gales Sohn?", fasste Haymitch erstaunt zusammen.
Sein Blick war urkomisch und ich musste wieder lachen. Deshalb nickte ich nur.
"Ja", sagte ich, nachdem ich mich wieder beruhigt hatte. "Zumindest kenne ich nur den."
"Also kein Ärger?"
Haymitch schien es immer noch nicht wirklich glauben zu können. Anscheinend waren in seinen Kopf auch andere Gedanken im Kopf herum geschossen. So etwas wie, dass man meine Leiche fand, oder ich ihn blutüberströmt wecken würde, weil wir fliehen mussten. Zumindest hatte er Angst um mich gehabt.
Deswegen nahm ich ihn bei den Schultern und sagte ernst: "Kein Ärger. Und jetzt geh schlafen."
Wir drückten uns noch einmal kurz, bevor er Richtung Tür ging.
Schon halb ins Bett geklettert, hörte ich auf einmal seine Stimme.
"Kann ich... also, wenn es dir nichts ausmacht... Ich... Kann ich vielleicht hier, bei dir, schlafen?"
Verwirrt schaute ich auf und sah in an.
Ich vergaß manchmal, dass er erst 14 war.
Seine Größe und Figur täuschten.
Aber in diesem Moment sah ich nur einen verängstigten Jungen, der gedacht hatte, seine Schwester vielleicht schon jetzt nicht mehr wiederzusehen.
"Klar.", sagte ich sanft.
Schnell kam er zurück und krabbelte mit unter die Decke.
Das Bett war groß und trotzdem kuschelten wir uns aneinander.
In dieser Nacht schlief ich lange und gut. Ohne Alpträume.

Primrue Mellark | Ungewolltes ErbeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt