Primrue Mellark | Kapitel 26

1.8K 159 5
                                    

Cato begleitete mich zur Bühne. Die Massen hatten lange genug auf ihren Sieger gewartet. Selbst der Präsident würde anwesend sein.
Mir war schlecht.
Ich klammerte mich regelrecht an den Arm meines Mentors. Gütiger weise sagte er nichts dagegen. Im Gegenteil. Als wir aus dem Aufzug stiegen und die ersten Menschen uns erwarteten, legte er sogar noch seine Hand beschützend über meine.
Wir warteten hinter der Bühne, während Caesar noch mit Geiergesicht redete und ihn zu gelungenen Spielen gratulierte. Ich wünschte, ich hätte eine Waffe bei mir, aber vielleicht könnte ich ihn auch einfach mit meinen Fäusten niederschlagen und solange weitermachen bis er sich nicht mehr rührte.
"Keine gute Idee", sagte Cato belustigt neben mir und ich merkte, dass ich laut gesprochen habe. Glücklicherweise hatte es sonst niemand gehört.
"Er hätte es aber verdient.", konterte ich trotzig, wie ein kleines Kind.
"Nur kriegen wir leider nicht immer was wir wollen, nicht wahr?" Cato schaute mich an und irgendwann nickte ich ihm zu. Er hatte Recht. Was würde es denn bringen?
Nichts. Nicht einmal Genugtuung.
Nachdem Caesar den Geier unter tosendem Applaus verabschiedet hatte war Cato dran. Wieder ging er nicht auf Caesars Scherze ein und wimmelte ihn mit kurzen Aussagen ab, wodurch sein Interview nicht besonders lang war. Kurz bevor er fertig war, tauchte Effie neben mir auf. Sie drückte mich kurz und flüsterte mir ins Ohr: "Ich weiß, du willst das hier nicht. Aber lass es bitte einfach über dich ergehen. Bring es hinter dich und dann kannst du bald nach hause gehen."
Ich konnte ihr nicht antworten, da in dem Moment Cato die Bühne verließ und Caesar mich anmoderierte.
Langsam setzte ich einen Fuß vor den anderen. Sobald die Zuschauer mich sehen konnten, wurde ohrenbetäubender Jubel laut. Viele riefen nach mir, freuten sich für Distrikt 12. Schon wieder ein Gewinner. Wer hätte das gedacht?
Ich jedoch starrte nur auf den Boden vor mir. Schaute nicht auf. Lächelte nicht. Ja, ich würde versuchen es über mich ergehen zu lassen, aber niemand hatte gesagt, dass ich es genießen müsste.
Es dauerte auch nicht lange, bis die Zuschauer meine Stimmung bemerkten und nach und nach verebbte der Applaus. Als ich bei Caesar ankam, hätte man sogar eine Nadel im Saal fallen hören können, so still war es.
Caesar streckte die Hand nach mir aus und ich ergriff sie. Nach einem kurzen Räuspern begann er: "Du siehst hinreißend aus, Primrue." Ein leiser Applaus entstand und ich zwang mich, wenigstens ein wenig zu lächeln und die Zuschauer anzusehen.
Dabei entging mir jedoch nicht die Tribüne im Hintergrund des Saales, wo der Präsident, mit seinen Beratern saß. Mein Lächeln verschwand.
Dann setzte ich mich. Ein Diener kam mit der Krone, die der Moderator ihm abnahm und mir auf den Kopf setzte. Sie war leicht. Wenn ich daran dachte, wie viele wegen diesem dummen Stück Metall sterben mussten, brauchte ich all meine Willenskraft, um mich nicht zu übergeben.
Caesar setzte sich mir gegenüber, schlug die Beine übereinander und lächelte mich an.
"Nun, ich dachte ja nicht das wir uns wiedersehen würden, nach unserem letzten Gespräch."
"War auch nicht mein Plan.", gab ich leise zu. Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht und er setzte eine ernste Miene auf.
"Ich weiß, mein Kind. Es muss schrecklich gewesen sein, deinen kleinen Bruder sterben zu sehen." Mein Blick senkte sich wieder zu Boden. Ich hoffte, dass er darauf keine Antwort erwartete und wenn doch, könnte er lange darauf warten. Vor diesen Leuten würde ich darüber nicht reden. Schließlich hatten sie doch alle meinen Zusammenbruch gesehen. Live. Was gab es da also noch zu bereden?
Nach einer Weile des Schweigens probierte es Caesar mit einer anderen Frage. "Du und Dillian, ihr habt euch gemocht." An die Zuschauer gewidmet sagte er theatralisch: "Tragisch nicht wahr? So junge Liebe, so zarte Bande, werden einfach zerstört." Ein mitfühlendes Raunen ging durch die Menge und ich verkrampfte meine Finger in meinem Schoß. Als wenn auch nur einer von ihnen verstand, wie es war. Ja, ihre Kinder mussten es einmal durchstehen. Nach der Rebellion, weil die Überlebenden ehemaligen Gewinner es so beschlossen hatten. Aber über ihren Spaß an den Wetten und der Show, schienen sie das komplett vergessen zu haben.
"Sag mir, Primrue", holte mich Caesar wieder aus meinen düsteren Gedanken heraus. "Wie geht es dir jetzt, nach den Spielen?" Ich lachte kurz auf. Hatte er das gerade wirklich gefragt? Ein Blick in Richtung Effie, die ängstlich schaute, beherrschte ich mich, und erwiderte nur: "Ich lebe."
Das schien Caesar zu genügen, oder er gab einfach auf. Zumindest machte er weiter im Programm.
Die Tode der Tribute.
Als erstes wurde das Blutbad gezeigt. Unterlegt von "ohhhs" und "ahhhs" der Zuschauer, sah man einen Tod nach dem anderen. Caesar kommentierte wortgewandt und der ein oder andere lachte sogar. Sie lachten über den Tod von Kindern! Mit jedem Toten wurde es für mich schwerer mich zu konzentrieren. Ich spürte meine alte Wut wieder in mir aufsteigen und ich begrüßte sie. Vielleicht war ich ja doch noch nicht ganz tot. Zu sehen, wie die Menschen sich über diese Spiele freuten, machte mich krank. Irgendetwas musste ich doch tun, sonst würde der ganze Horror gegen den so viele gekämpft haben und dabei gestorben sind, wieder von neuem beginnen.
Auf dem großen Bildschirm, sah man gerade, wie ich die Hand des Mädchens aus Distrikt 5 verlor. Mira. Ihr Name war Mira gewesen. Hier wurde sie nur als Distrikt 5 Tribut aufgeführt. Wir waren eben nur Spielfiguren für sie. Wieder ging ein mitfühlendes Aufstöhnen durch die Reihe, als man sah wie Lupo noch versuchte, das Mädchen zu erreichen und es nicht schaffte.
"Das reicht.", sagte ich leise. Niemand hörte mich. Niemand beachtete mich. Alle Gesichter waren nur auf den Bildschirm geöffnet und so sprang ich auf und schrie: "Ich sagte, es REICHT!"
Alle Köpfe zuckten zu mir herum. Schweigen breitete sich im Saal aus. Man hörte nur noch die Kampfgeräusche des weiterlaufenden Films.
"Macht das aus!", befahl ich laut. Wie durch ein Wunder, gehorchte man mir und der Bildschirm wurde schwarz.
Caesar versuchte es wieder mit einen Lächeln und seiner lieblichen Stimme. "Was ist denn, Kind?"
"Was ist?", ich fuhr zu ihm herum, "Was ist Caesar? Solltest du das nicht am besten wissen? Du war damals hier. Damals, als die Spiele noch normal waren. Als die Rebellion begann, Paylor an ihrer Spitze!" Das hatte gesessen. Zumindest starrte er bestürzt zu Boden.
Dann wandte ich mich an die Zuschauer, die mich immer noch anstarrten: "Seit ihr glücklich? Hat es euch gefallen?", Ich nahm meine Krone ab und brach sie in mehrere Stücke. Mit jeder Aussage, warf ich ein Stück weg: "Ihr nahmt mir mein Zuhause, ihr nahmt mir meine Sicherheit, meine Eltern, meinen Bruder, meine Liebe, mein Leben!" Wütend starrte ich sie an, nachdem ich das letzte Stück geworfen hatte. Alle schwiegen und ich schrie. "Seit ihr nun zufrieden, dass ihr uns alle zerstört habt!"
Der Präsident zog meine Aufmerksamkeit auf sich, als er aufstand. Keine Ahnung was er sagen wollte. Ich wollte es nicht hören und so sprach ich weiter: "Denkst du, das hier ist, was deine Mutter gewollt hätte? Dass du die Distrikte so bestrafst? Das wiederbringst, gegen was sie so viele Jahre gekämpft hat? Für das sie so viel geopfert hat? Siehst du darin den richtigen Weg? Den, den deine Mutter eingeschlagen hätte, Trius?"
Alles stöhnte entsetzt auf, als ich ihm beim Vornamen nannte, aber es war mir egal. Er war wie ich: nur ein Mensch. Ein Mensch, der Fehler gemacht hatte und einsehen musste, dass es genau das war. Trius starrte eine Weile auf mich herab, schaute dann zu Boden. Es lag eine Spannung in der Luft, die fast zum greifen war. Was würde passieren?
"Du weißt, dass man so nicht mit dem Präsidenten redet, oder?", fragte er leise und dieses mal lachte ich wirklich auf, wodurch viele Leute zusammenzuckten.
"Was willst du dagegen tun? Mich töten?", konterte ich und erklärte mit bitterer Stimme: "Ich bin schon tot, Trius."
Wieder vergingen ein paar Sekunden, bevor er sich erneut zu Wort meldete und ich denke, dass ich nicht die einzige war, die von seinen Worten erstaunt war.
"Du hast Recht, Primrue. Es war ein Fehler."
Ich konnte nicht anders. Ich musste ihn anstarren, wie auch alle anderen im Saal. Mit vielem hatte ich gerechnet, allem voran mit einer Kugel im Kopf, aber nicht damit.
"Es war ein Fehler und ich habe meine Mutter und euch alle enttäuscht. Das ist mir jetzt klar. Ich habe mich von Trauer und Zorn leiten lassen. Wollte Gerechtigkeit. Habe diese aber mit Unterdrückung verwechselt. Es wird nicht wieder geschehen.", sein Blick glitt von den Zuschauern zu mir, "Sag mir, kleines Mädchen, was kann ich tun um dein Leiden erträglicher zu machen? Ich würde alles tun."
Fast war es amüsant zu sehen, wie alle Köpfe von ihm auf mich schwenkten. Gespannt was ich antworten würde. Was ich haben wollte. Ich fühlte mich wie in einem schlechten Theaterstück und deswegen sagte ich das einzige, was mir einfiel, auch wenn ich wusste, dass es nicht möglich war: "Kannst du sie mir zurück geben? Dillian? Haymitch? Alle anderen unschuldigen Kinder?" Nun wussten alle anscheinend nicht, wohin mit ihren Augen, denn sie schauten überallhin, nur nicht zu mir oder zu Trius. Nur wir beide starrten uns immer noch an.
"Leider nicht.", antwortete er und seine Bedrückung schien echt. Ich konnte nur hoffen, dass er daraus gelernt hatte, dass dieser Horror nie wieder stattfinden würde. Aber ich würde nicht nachgiebig sein. Auch wenn ich am liebsten zusammengebrochen wäre, sammelte ich noch einmal all meine Kraft und sagte hart und emotionslos.
"Dann schaff dir wenigstens bessere Berater an. Welche die nicht nur aus dem Kapitol sind und nach Rache gegen die Distrikte sinnen." Das empörte Raunen nahm ich nur halb wahr. Ich wollte hier weg, schnell.
Nicht mehr zurückschauen. Mich endlich um mich kümmern.
Mit schnellen Schritten, ohne zu rennen, stürmte ich von der Bühne. Vorbei an der entsetzt schauenden Effie und anderen Menschen. Mein Kopf war zu Boden gerichtet. Allein die wenigen Tode zu sehen, hatte alles in meinen Kopf wieder aufgefrischt. Ließ die Tode wieder von vorn beginnen.
Und so rannte ich gegen etwas hartes. Starke Arme griffen nach mir, als ich nach hinten abprallte und das Gleichgewicht zu verlieren drohte.
Cato. Immer da, wenn ich ihn brauchte. 
Ich lehnte mich gegen seine Brust und er hielt mich fest.
"Bring mich heim", flüsterte ich leise und weinerlich. "Bitte." Ich konnte nicht anders. Vor dieser ganzen Show hatte ich schon kaum mehr Kraft gehabt, irgendetwas zu tun, aber jetzt waren auch die letzten Reserven aufgebraucht. Es war noch einmal ein kurzes Aufglühen von meinem alten Ich gewesen, bevor es für immer verschwand.
"Okay", sagte er leise. Lauter gab er Anweisungen, dass ich sofort abreisen müsste und niemand wagte es, ihm zu widersprechen.
Schneller als ich gedacht hätte, führte er mich zum Ausgang des Gebäudes und zu einem Wagen. Wir brauchten nicht lange bis zum Bahnhof und trotzdem waren schon überall Menschen versammelt die auf mich starrten.
"Ich kann nicht mehr" Meine Stimme war leise, nicht mal mehr ein Flüstern, aber Cato schien mich trotzdem gehört zu haben.
"Ich weiß, aber du musst noch ein wenig durchhalten. Du hast dich dort für alle Distrikte eingesetzt, gezeigt, dass du keine Angst vor einem Präsidenten hast. Dass wir ihn akzeptieren, uns aber nicht noch einmal unterdrücken lassen. Du stehst für das Kapitol nun für alle Distrikte. Wir stehen hinter dir. Aber du darfst jetzt nicht zusammenbrechen. Noch nicht. Nur noch die wenigen Meter zum Zug, dann darfst du wieder du sein. Aber bist dorthin bist du.."
"Ein Symbol", beendete ich seinen Satz. "Wie meine Mutter damals."
Cato nickte und ich atmete noch einmal tief durch. Dann stieg ich aus dem Wagen.
Alle starrten mich an, unterschiedliche Emotionen spiegelten sich auf den Gesichtern wieder. Wahrscheinlich wäre ich gleich zusammengebrochen, wenn ich nicht Catos Hand in meinen Rücken gespürt hätte. Er hielt mich, führte mich. Ich musste nur meine Gesichtszüge wütend halten und meine Beine voreinander setzten. Den Rest nahm er mir ab. Zusammen wirkten wir anscheinend so einschüchternd, dass keiner sich traute, etwas zu sagen. Manche wichen sogar vor uns zurück.
Ich schaffte es bis in den Zug und stieg ein.
Als die Türen sich hinter mir schlossen und er losfuhr, ging ich ich in die Knie und begann leise zu weinen.

Primrue Mellark | Ungewolltes ErbeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt