Primrue Mellark | Kapitel 29

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Blind für alles um mich herum trat ich von der Tür zurück. Ich schaute nach rechts und links. Niemand war zu sehen. Mir fiel nur ein Ort an den ich jetzt gehen konnte. Nur ein Ort wo ich immer ich selbst sein konnte.
Haymitchs Haus.
Ohne weiter darüber nachzudenken ging ich los.
Bei seinem Haus angekommen blieb ich stehen. Auch hier verfolgten mich Erinnerungen aber nicht so schlimm, wie vor unserem Haus. Entschlossen trat ich ein.
Überall war es dunkel. Niemand schien sauber gemacht zu haben, in der Zeit wo ich weg war.
"Haymitch?", fragte ich leise und bekam als Antwort nur ein Schnarchen.
Okay.
Ich fand ihn wieder einmal im Wohnzimmer, wo er zusammengerollt auf dem Boden lag. Er schien unverletzt, also ließ ich ihn schlafen. Wahrscheinlich brauchte er den Schlaf sogar dringender als ich.
Ich beschloss ein wenig zu putzen um mich abzulenken.. Wieder in die alte Routine finden. Leise begann ich alle Flaschen einzusammeln, wie jeden morgen bevor diese Spiele mein Leben für immer verändert hatten.
Eine halbe Stunde später hatte ich alle gefunden. Ich war müde und fühlte mich nicht gut. Auch wenn ich versuchte mich abzulenken sah ich immer wieder die Gesichter der Tribute, hörte ihre Schreie, wartete regelrecht auf einen neuen Kanonenschlag. Aber es kam keiner. Es konnte auch keiner mehr kommen. Nur ich war übrig.
Mein Blick blieb an einer noch fast vollen Flasche von Haymitch hängen. Er hatte seine Spiele auch nie verkraftet, aber er hatte einen Weg gefunden damit klarzukommen.
Entschlossen die Stimmen und Bilder zu vertreiben griff ich nach der Flasche und nahm einen großen Schluck.
Schlechte Idee.
Es fühlte sich an, als wenn meine Kehle verätzt werden würde. Ich spürte regelrecht, wie die Flüssigkeit meine Speiseröhre herunterlief und sich dann in meinen Magen sammelte. Nach einer Weile wurde der Schmerz jedoch zu Wärme und fühlte sich fast gut an.
Ich trank noch einen Schluck, diesmal einen kleineren und merkte, dass es so zu ertragen war.
Ohne wirklich darüber nachzudenken trank ich weiter und setzte mich an den Tisch, starrte in Richtung Fenster. Ich fühlte mich leicht benommen nach einer Weile aber die Stimmen wurden leiser.
Ich merkte nicht einmal, dass jemand in die Küche gekommen war, bis zu dem Moment wo mir die Flasche aus der Hand gerissen wurde. Ein Knurren kam aus meinen Mund, was nichts menschliches mehr an sich hatte.
"Ja, ja, du mich auch", erklärte Haymitch unbeeindruckt und leerte die Flasche im Spülbecken. Genau wie alle anderen, die ich gesammelt hatte. Was war jetzt los? Haymitch nahm mir die Flasche weg?
Als er fertig war, nahm er zwei saubere Gläser, füllte Wasser hinein und stellte eines vor mir ab. 
"Trink.", befahl er und setzte sich mir gegenüber. Er rührte sein Glas nicht an, also tat ich es auch nicht. Wir starrten uns nur gegenseitig an. Keiner wollte den anderen aus den Augen zu lassen oder ein Gespräch anzufangen. Ich beobachtete einfach nur wie das Sonnenlicht Schatten auf sein Gesicht warf. Wie sie sich bewegten, bis sein Gesicht komplett im dunklen lag.
Es fühlte sich nichts falsch daran an, so zusammen zu sitzen. Zwei gebrochene Menschen, die aufpassten, dass der andere nicht loslief um irgendetwas dummes zu tun.
Selbst als die Haustür geöffnet wurde schauten wir nicht von einander weg.
Nur aus dem Augenwinkel sah ich, wie mein Vater in die Küche kam und sich von der Situation ein Bild machte. Leere Alkoholflaschen auf der Theke, Haymitch und ich am Tisch mit zwei immer noch vollen Wassergläsern vor uns. Erstarrt.
Musste ein tolles Bild sein.
Er sagte nichts. Ging nur zu Haymitch und klopfte ihn kurz auf die Schulter. Dankbar.
Dann kam er zu mir und hob mich hoch, als wäre ich ein Kleinkind und nicht die Gewinnerin der diesjährigen Hungerspiele. Ich wehrte mich nicht. Warum auch? In den Stunden des stillen Dasitzens, war ich ruhig geworden, wodurch die Stimmen irgendwann aufgaben. Als würden sie müde werden. Als wenn sie keine Lust hatten mich ständig zu quälen. In den Armen meines Vaters fühlte ich mich sicher. Ich ließ mich in unser Haus tragen. Auch wenn mein Herz schneller schlug, zersprang es nicht wieder fast wie am Morgen. Peeta war da. Alles war in Ordnung. Trotzdem starrte ich weiter vor mich hin, ohne wirklich etwas zu sehen.
Mein Vater brachte mich in mein Bett. Eine Weile blieb er noch neben mir sitzen, bis er die Haustür hörte. Anscheinend war meine Mutter zuhause. Ein letztes mal streichelte er mir über den Kopf, und dann ging er, ließ die Tür aber einen Spalt breit offen, so wie früher, als ich noch klein war und Angst im Dunkeln hatte.
Alles kam mir irgendwie anders vor, fremd. Ich zog die Decke bis zum Hals, doch mein Frösteln wollte nicht aufhören. Ich konnte es nicht leugnen. Irgendetwas fehlte eben.
Zwar war ich sicher, dass ich nicht schlafen könnte, aber nachdem ich irgendwann meine Augen kurz zugemacht hatte und wieder öffnete war es auf einmal hell draußen. Ich hörte sogar Vögel vor meinen Fenster. Etwas, was es im Kapitol nicht gab.
Es war...friedlich. Ich hätte nicht gedacht, dass ich das noch einmal erleben würde.
Konnte ich vielleicht einfach hier liegen bleiben? Nicht mehr aufstehen? Einfach nur hier liegen bleiben. Sollte doch die Welt weiterlaufen. Andere konnten ja versuchen, alles besser zu machen. Ich würde einfach nur hier liegen bleiben.
Gerade als ich mir meines Entschlusses sicher war, hallte ein Schmerzensschrei durch das Haus.
Mom!
Ich war schon auf den Beinen, bevor ich überhaupt richtig realisiert hatte, dass sie es war die geschrien hatte. Meine Beine setzten sich automatisch voreinander und immer noch hatte ich das Gefühl nicht schnell genug voranzukommen. Adrenalin floss durch meinen Körper und ließ mich noch schneller werden. Bei den Treppen nahm ich immer zwei zugleich, am Ende sprang ich einfach über das Geländer. Noch nicht mal richtig gelandet, rannte ich schon weiter. Es war wohl mehr Glück als Verstand, dass ich mir dabei nichts brach.
Als ich in die Küche geschlittert kam, drehte sich meine Mutter erschrocken um. Ein blutiges Messer lag am Boden und sie drückte sich ein Tuch auf die Hand.
"Mom was ist los?" Meine Stimme zitterte so sehr, dass ich mich selbst kaum verstand. Sie schien es aber überhörte meine Panik einfach. Wagte sie es da gerade schief zu lächeln?
"Ah, so bekommt man dich also aus dem Bett", stellte sie fest. "Man muss sich einfach nur in die Hand schneiden." Sie lachte leise. Ich konnte ihr nicht glauben, musste mich überzeugen. Mit wenigen Schritten war ich bei ihr und riss das Tuch von ihrer Hand. Da war er. Ein Schnitt, tief aber sicher nicht tödlich.
"Wie konntest du?", flüsterte ich und als meine Mutter mich nur verwirrt anschaute, noch immer dieses seltsame Lächeln auf ihren Lippen wurde ich wütend. "Wie konntest du?", schrie ich sie an, "Ich hatte Angst dir wäre etwas passiert. Ich ... ich..." Der Blick von Katniss war erschrocken. Noch nie hatte ich meine Mutter oder irgendjemanden aus meiner Familie angeschrien. "Es...es tut mir leid. Ich...", fing ich wieder an zu stammeln. "Ich wollte nicht..."
"Schon gut Primrue.", erklärte sie aber auf einmal sah ich, wie fahl ihre Haut war. Wie dunkel ihre Augenringe und meine Entschuldigung wurde eine ganz andere: "Es tut mir so leid. Ich.. ich hätte ihn beschützen müssen." Meine Mutter schien nicht gleich zu verstehen und so schossen mir die Tränen in die Augen als ich weiter stammelte: "Ich hätte ihn retten müssen. Ich hatte es versprochen, es war meine Aufgabe. Meine Schuld"
"Hör auf.", flüsterte meine Mutter aber dieses mal überhörte ich sie einfach. Stammelte weiter. Deswegen war es nun an meiner Mutter zu schreien: "Ich hab gesagt, HÖR AUF!"
Ich erschrak und verstummte. Tränen liefen mir stumm über die Wangen, als ich meine Mutter nur anstarren konnte. Sie starrte zurück.
"Hör auf Primrue.", sagte sie noch einmal leise, auch wenn ich schon lange verstummt war. Auch in ihren Augen hatten sich Tränen gebildet. Auch wenn nur wenige Sekunden vergingen, bis sie weitersprach, fühlte es sich für mich wie Stunden an. Stunden in denen ich dachte, meine Mutter würde mich für mein Versagen hassen. Dann sagte sie leise: "Nichts davon war deine Schuld. Du hast ihn beschützt, bis zur letzten Sekunde. Du warst bei ihm, als er starb, hast ihm die Angst genommen, bist für ihn stark geblieben. Ich hätte in diesem Moment nicht stolzer auf dich sein können. Hör auf, dich selbst zu zerstören. Das würde er nicht wohlen. Das würde Haymitch nicht wollen. Und Dillian auch nicht."
Ich konnte nicht mehr und ließ mich in ihre Arme fallen. Laut schluchzend weinte ich an ihrer Schulter, während sie beruhigend auf mich einredete und meinen Kopf streichelte.
Sie hasste mich nicht.
Das war alles was ich denken konnte.
"Es tut mir so leid, Kleines.", erklärte sie nach ein paar Sekunden. "Ich weiß, wie es ist. Wie es sich anfühlte, als du Haymitch verloren hast. Als du nichts tun konntest. Und dazu kann ich mir nur vorstellen, wie schlimm es sein musste, dann auch noch Dillian zu verlieren. Wäre dein Vater damals... ich denke nicht das ich wieder aufgestanden wäre wie du."
"Hey", hörte ich auf einmal leise von der Tür. Ich drehte mich um, ohne meine Mutter loszulassen. Mein Vater stand an der Tür. Ich wusste nicht, wie viel er gehört hatte aber nach seinen Gesicht zu urteilen genug. Er kam auf uns zu, strich mir sanft über den Kopf und küsste Katniss auf die Stirn, bevor er uns beide in seine Arme schloss.
Ich stand zwischen den beiden, wieder beschützt von ihnen. Meine Mutter begann leise zu weinen aber es war das erste mal, dass ich mich nicht schuldig fühlte. Sie gaben mir nicht die Schuld, sie verstanden mich sogar. Ich lehnte mich wieder an meine Mutter, ließ mich von ihr und meinen Vater, der uns beide stützte, halten. Wenn auch er weinte, merkte ich es nicht. Aber in diesem Moment waren wir eins und ich wusste, dass ich zwar gebrochen war, aber meine Eltern mich zusammenhalten würden, bis ich wieder ein Ganzes war.

Primrue Mellark | Ungewolltes ErbeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt