Primrue Mellark | Kapitel 7

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Die Nacht war kurz und voller Alpträume.
Oft schreckte ich aus Träumen, in denen ich Haymitch nicht retten konnte, schweißgebadet auf. Es dauerte lange, bis ich nach diesen wieder einschlief.
Ich sah ihn, meine Eltern, Cato und Dillian... was immer der auch in meinen Träumen zu suchen hatte.
Als ich endlich in einen ruhigen Schlaf gefallen war, schreckte mich auch schon Effies schrille Stimme wieder auf.
"Beeil dich meine Liebe, heute ist dein erstes Training!"
Ich fühlte mich, als hätte ich nur fünf Minuten geschlafen und als mein Blick auf den Wecker fiel, bestätigte dieser auch, dass ich erst vor etwa einer Stunde wieder eingeschlafen war.
Mit schmerzenden Gliedern kämpfte ich mich Richtung Bad und stellte mich unter die Dusche.
Das heiße Wasser tat den verkrampften Muskeln gut, und so blieb ich länger als nötig stehen. Als ich wieder hinaustrat, lag auf meinen Bett meine Trainingskleidung. Schwarze Hose, schwarzes Oberteil mit einer kleinen, silbernen Zwölf auf den Rücken. Ich zog mich schnell an und flocht meine Haare im gehen.
Mein Bruder und Effie saßen schon am Frühstückstisch.
Nach seinen Augenringen zu Urteilen, hatte er nicht wirklich mehr als ich geschlafen. Er trug heute das gleiche Outfit wie ich. Unsere Blicke trafen sich nur kurz, bevor er schnell wieder wegschaute, aber ich sah den Zorn in seinen Augen.
War er jetzt etwa wütend auf mich? Warum? Was hatte ich denn jetzt wieder angestellt?
"Primrue hörst du mir überhaupt zu?", fragte Effie etwas zu laut.
Ich schaute sie verwirrt an.
"Hm?", kam nur aus meinen Mund und unsere Betreuerin seufzte. Anscheinend hatte sie schon länger mit mir geredet.
"Ich sagte, dass du nicht gut aussiehst. Du solltest noch etwas essen, bevor das Training losgeht und ich rufe Caleo. Es ist nicht gut wenn es dir schlecht geht, aber es ist noch schlimmer wenn es einen der Spielmacher oder anderen Tribute auffällt." Sie stand eilig auf und tippelte zum Telefon.
Ja, sie tippelte wirklich. Wer konnte auch in solchen Schuhen laufen?
Ich setzte mich schräg gegenüber von Haymitch, so dass ich ihn nicht anschauen müsste. Er half mir dabei und schaute ebenfalls in die andere Richtung, als wäre er mehr als interessiert daran, zu wissen, was Effie mit Caleo besprach.
Hatte sie gerade gesagt, ich sähe erschreckend aus?
Danke.
Ich war vielleicht nicht die gebräunteste, wodurch Augenringe mehr auffielen, aber so schlimm war es nun auch wieder nicht! Trotzdem endete Effies Klagelied nicht, und nun bekam ich auch noch Kopfschmerzen.
Ja, das ging herrlich los.
Gott sei Dank war Cato noch nicht da. Wahrscheinlich hatte er Effies Stimme gehört und entschieden uns lieber im Stich zu lassen, als sich das auch nur fünf Minuten anzutun.
Ich kämpfte weiter mit ein bisschen Obst, bis Effies Stimme endlich verklang.
Danke!
Jedoch stand keine zwei Minuten später Caleo im Raum und musterte mich entsetzt.
War sie geflogen?
Ich schaute sie verwirrt an, bevor sie laut losprustete.
"Anstrengende Nacht gehabt, hm?" Aus ihren Mund klang das irgendwie zweideutig. Als ich jedoch nicht darauf einging, nahm sie mir das Brot aus der Hand und drehte mich auf meinen Stuhl um. "Na, das haben wir gleich."
Wenige Minuten später war sie fertig mit ihren Werk und begutachtete es zusammen mit Effie, die erleichtert aufatmete.
"Besser. Viel besser. Danke, Caleo" 
"Das ist mein Job", erklärte diese nur und zwinkerte mir zu, bevor sie sich auf das Sofa setzte. "Habt ihr euch die Parade gestern noch angeschaut? Das war der Hammer. Ihr zwei seit super angekommen."
Keiner antwortete ihr. Was sollten wir auch sagen?
Unsere Betreuerin hat sich gleich nach euch ins Bett verzogen, woraufhin unser Mentor Haymitch angegriffen hat. Deshalb bin ich ausgetickt und habe Cato angegriffen, der jedoch besser ist als ich dachte.
Resultat: Meine Rippen taten mir immer noch weh, mein kleiner Bruder hatte Angst vor mir und schien mich gleichzeitig zu hassen. Als wenn das noch nicht alles genug wäre, hat unser Mentor, zu allem Überfluss, auch keine Lust uns Tipps zu geben, was wir heute machen sollen. Aber seien wir froh, dass er zumindest gerade nicht mit Messern wirft.
Ja, sie würde sich bestimmt freuen, das zu hören. Also widmete ich mich wieder meinem Obst, damit ich nichts sagen musste.
"Ach wir sind alle früh zu Bett. Es war ja doch sehr anstrengend.", erklärte Effie nach einer Weile.
Kein Grund, dem zu widersprechen.
So vergingen die nächsten Minuten in unangenehmen Schweigen und ich sprang regelrecht freudig auf, als Effie sagte, dass es Zeit war, hinunter zu fahren.
Wir waren die ersten. Schließlich waren wir auch noch eine halbe Stunde zu früh.
"Bleibt zusammen", flüsterte Effie uns noch zu, bevor auch sie verschwand und wir erst einmal auf uns allein gestellt waren.
"Hast du gut geschlafen?", fragte ich Haymitch, in der Hoffnung ein Gespräch zu starten, doch er schnaufte nur kurz auf und ging weiter.
Okay.
Nun wurde die Situation doch etwas seltsam. Ich wollte nicht, dass die anderen Tribute irgendwas mitbekamen. Da ich nicht wusste wann die nächsten kommen würden, lief ich ihm hinterher und riss ihm am Arm herum.
"Was ist dein Problem?"
Ich versuchte leise zu sprechen aber es viel mir schwer. Ihm ging es da nicht anders zu gehen.
"Du bist mein Problem!"
"Warum? Was habe ich jetzt schon wieder getan?"
"Ich dachte wir wären ein Team!", erklärte er mir wütend, "Als wir kleiner waren hast du gesagt, wir würden immer zusammenhalten!"
"Was denkst du was ich hier tue? Wäre ich hier wenn wir nicht immer noch ein Team wären, wie früher?"
"Ach ja? Und warum hast du mir dann nicht gesagt, dass du die ganze Zeit Probleme hattest, dass du Angst hattest. In einem Team müssen sich beide Seiten vertrauen! Hör auf, mich immer vor allen beschützen zu wollen. Das kannst du nicht! Ich bin alt genug! Du willst das ich überleben? Fein. Aber wie soll ich denn bitte Mom und Dad; Haymitch und die anderen Leute im Distrikt beschützen und wieder aufbauen, wenn nicht mal du mir etwas zutraust!"
Haymitch war mit jedem Wort lauter geworden und hatte die letzten Worte mehr geschrien, als gesagt. Tränen glitzerten in seinen Augen. Das hatte nichts mit gestern Abend zu tun. Es war vielleicht der Auslöser gewesen, aber ganz sicher nicht der Anfang.
"Haymitch, das ist es nicht. Ich... du bist so viel besser als ich. So gut. Die Menschen lieben dich. Deine Güte. Ich wollte doch nur, dass du immer glücklich bist."
"Das hat sich aber geändert, als die Hungerspiele kamen Primrue. Mit meiner Güte oder mit der Liebe der Menschen kann ich nicht gewinnen. Und wie stellst du dir bitte vor, dass ich noch glücklich sein kann, wenn meine große Schwester nicht mehr da ist, weil sie sich für mich geopfert hat? Wenn ich weiß, dass es meine Schuld ist, dass sie nicht mehr da ist?"
Tränen liefen ihm über die Wangen, und als er zu mir schaute, konnte ich nur nach ihm greifen und ihn in den Arm nehmen. Ihn festhalten.
"Tut mir leid, Krümel.", versuchte ich ihn leise zu beruhigen, "Du hast Recht. Ich hätte mit dir reden sollen, mich nicht zurückziehen. Ich kann es jetzt nicht mehr ändern, aber ab jetzt erzähl ich dir alles."
"Versprochen?", schniefte er.
"Versprochen. Denk immer daran was Mom und Dad sagen. Wir beschützen einander. Das ist es, was wir tun!"
Ich drückte ihn immer noch fest an mich, als die Fahrstuhltüren hinter uns aufgingen.
"Oh, schau dir das an Dillian!", hörte ich eine sarkastische Frauenstimme hinter mir. Distrikt Zwei war hier. "Sind sie nicht süß?"
Haymitch ließ mich sofort los und ging in die andere Richtung. Wahrscheinlich wollte er nicht, dass irgendjemand sah, dass er geweint hatte.
Ich hingegen drehte mich um und zeigte diesem arroganten Mädchen mein hübschestes Lächeln.
"Entschuldigung, du warst nochmal?", fragte ich zuckersüß und traf damit genau ins Schwarze.
Beleidigt warf sie ihre Haare nach hinten und schaute sich um, mich ignorierend. Mein Blick folgte ihr kurz, bevor mich ein leises Lachen wieder zurückschauen ließ.
"Das war keine schlaue Idee.", erklärte Dillian. "Lessa sollte man nicht unterschätzen und besonders nicht als Feind haben. Dumm aber mutig."
Hatte er mich gerade dumm genannt?
Nett.
Warum traf ich nur auf Männer, die Idioten waren. Als Antwort zog ich nur kurz meine Augenbraue hoch und drehte mich dann um, um Haymitch zu folgen.
"Halt, warte.", hielt mich seine Stimme zurück. Da ich nicht unhöflich sein wollte, drehte ich mich wieder zu ihm um. "Tut mir Leid. War nicht so gemeint."
Als ich auch darauf nicht reagierte, streckte er mir seine Hand entgegen.
"Hi, ich bin Dillian."
"Primrue.", antwortete ich, ohne seine Hand zu nehmen.
Wieder entstand ein unangenehmes Schweigen, aber ich war nicht gewillt, es zu durchbrechen.
Ich wusste nicht, was ich von ihm halten sollte. War er Freund oder Feind?
Aber es war irgendwie... niedlich, als er merkte, dass ich nicht seine Hand nehmen würde, und er sie zaghaft zurückzog.
"Nun ja. Dann geh ich mal darüber.", erklärte er und zeigte in Richtung von Lessa.
Es war schwer wieder nicht zu reagieren, aber es machte einfach zu viel Spaß.
Dillian schien es nicht gewohnt zu sein, das ein Mädchen sich nicht über seine Aufmerksamkeit freute. Als er zu Lessa ging, tat er mir fast sogar ein bisschen Leid.
Was tat ich hier eigentlich schon wieder?
Für so was hatte ich keine Zeit! rügte ich mich selbst, und hielt Ausschau nach Haymitch.
Er saß auf einer Art Treppe weiter hinten, von der er den Fahrstuhl optimal im Auge hatte, aber nicht gleich auffiel.
Perfekt.
Lächelnd ging ich zu ihm und wir warteten darauf, dass die anderen Tribute auftauchten. Als nächstes kamen die aus Distrikt 1.
Wie waren ihre Namen noch gleich?
"Mason und Cristal. Beide 18 Jahre alt.", erklärte mein Bruder, als wenn er meine Gedanken gelesen hätte.
Danach kam Distrikt vier.
Der Junge war unscheinbar, mit seinen braunen, kurzen Haaren und braunen Augen, das Mädchen hingegen hatte dunkelblaues Haar.
Wow. Es sah gut aus, aber in der Arena würde es ganz schön auffallen.
Sie wirkte jedoch nicht so nervös, wie ihr Mittribut.
Ihre blauen Augen fixierten genauso alle anderen, wie meine es taten.
Karriero, flüsterte eine innere Stimme mir zu.
"Weißt du, wer sie ist?", fragte ich Haymitch, der natürlich eine Antwort parat hatte: "Kelly. 15 Jahre. Sie schien glücklich darüber, ausgewählt worden zu sein. Hatte erzählt, dass ihr Vater ein Karriero war aber nie die Chance für ein Spiel hatte."
1:0 für die innere Stimme
Weitere unscheinbare Gestalten traten ein. Es war, als wenn mein Hirn auf Raubtier umgeschaltet hätte und die potenziell gefährlichen von den nicht ernstzunehmenden trennte. Distrikt 3i, 6, 7, 9: Uninteressant.
Distrikt Elf: Zwillinge... Zwillinge?
Ich schaute noch einmal genauer hin.
Die beiden hatten dunkle Haut, waren groß und hatten sehr kurze Haare. Das Mädchen war ein wenig schlanker, nicht ganz so muskulös, wie ihr Bruder aber ansonsten konnte man sie nicht unterscheiden. In einem Kampf gar nicht so einfach.
Ein Blick zu meinem Bruder reichte.
Er erklärte: "Crash und Carra. Zwillinge, wie man sieht. 18 Jahre alt. Das erste Zwillingspaar seit den ersten Spielen übrigens."
Woher wusste er das nur alles? Und ich dachte, ich hätte an den Abend im Zug auch aufgepasst, aber dem war wohl nicht so.
Ich schmunzelte.
"Gut das ich dich dabei hab. Ohne dich wäre ich aufgeschmissen.", lobte ich ihn und Haymitch lächelte mich kurz an.
Dann konzentrierten wir uns weiter auf die Leute.
Die Tribute aus 5 hätten unterschiedlicher nicht sein können.
Der große, muskelbepackte Junge trat als erster ein. Es schien fast, als wenn das gegen ihn kleine und zierliche Mädchen sich hinter ihm versteckte.
"Das ist Lupo", flüsterte mein Bruder mir zu, "gerade mal 16 Jahre alt, aber schon ein Riese."
Das war er, ohne Zweifel. Aber er bewegte sich schwerfällig, was ich mir im Hinterkopf markierte.
Distrikt Acht und Zehn kamen gemeinsam. Sie schienen unscheinbar, hatten sich aber anscheinend schon zu einer Gruppe zusammengeschlossen. Nicht gut.
Als der Trainer eintrat, standen wir alle auf und versammelten uns um ihn.
Er erklärte die Regeln, der einzelnen Stationen.
Wir durften nicht gegeneinander kämpfen, nur mit Trainern. Haymitch und ich gingen alle Stationen gemeinsam ab.
Wir hörten aufmerksam zu, auch wenn wir das meiste schon wussten.
Knoten machen, essbare Kräuter; man wusste nie was man Neues dazulernen konnte, und auf was man in den Spielen gefasst sein musste.
Beim Speerwerfen stellten Haymitch und ich uns zwar beide dumm an ,aber irgendwie machte es auch Spaß.
Wenn ich nicht wüsste, dass ich bald sterben würde, wäre das hier richtig lustig.
Einige beobachten uns, andere beobachteten wir.
Es war ein bisschen wie Katz und Maus. Jeder wartete darauf, dass etwas passierte, dass jemand unachtsam war und man daraus seinen Nutzen ziehen konnte.
Den Nachmittag verbrachten wir bei den Gewichten. Es würde uns nicht schaden, an Kraft zu zulegen, besonders gegen Cato.
Er schoss mir regelrecht wie ein Blitz in die Gedanken. Ihn hatte ich total vergessen, aber irgendwann würden wir ihm wieder begegnen, und ich konnte ihn immer noch nicht einschätzen. Eins war klar, ich brauchte eine bessere Waffe, als mein Besteck. Neben der Sperrstation, waren Messer zum Werfen aufgereiht und daneben welche für den Nahkampf. Perfekt.
"Komm, wir gehen ein bisschen Messer werfen üben." , sagte ich zu Haymitch.
Er schaute mich kurz überrascht an, folgte mir dann aber. Ich erklärte ihm kurz, wie er werfen müsste, damit er es versuchen konnte. Er stellte sich gar nicht so dumm an, und als ich sicher war, dass niemand mich beobachtete, steckte ich eins der Messer ein.
"Super", lobte ich ihn.
Dann wurde das Zeichen dafür gegeben, dass das Training für diesen Tag vorbei war. Wir warteten, bis die meisten der Tribute gegangen waren, bevor wir selbst Richtung Aufzug gingen.
Haymitch war schon eingestiegen, als ich von einer Hand zurück gehalten wurde.
Mist.
Bitte kein Trainer, bitte kein Trainer.
Ich drehte mich langsam um und hoffte, dass mein Pokerface hielt.
Es entgleiste mir, als ich nicht zu einem der Trainer, sondern zu Dillian aufsah.
"Für was brauchst du das Messer?", flüsterte er mir leise zu.
Ich schluckte.
Mist, er durfte mich nicht verraten.
Keine Ahnung, was dann mit mir passieren würde. Früher wurde man als Verräter gebrandmarkt. Das hieß tot, oder, noch schlimmer, man wurde zum Avox gemacht.
Avoxe gab es nicht mehr, aber würde man mich eventuell töten?
"Keine Ahnung, wovon du redest.", versuchte ich es halbherzig.
Er lachte nur kurz auf.
"Ok, du willst es auf die harte Tour. Fein. Machen wir einen Deal. Ich lass dir dein Messerchen, wenn du heute um Mitternacht aufs Dach kommst."
"Was wenn ich nicht komme?", fragte ich ängstlich.
"Dann hoffe ich, dass du die Zeit in der Nacht nutzt und versuchst zu entkommen. Denn morgen früh werden die Spielmacher wissen, was du getan hast."
Damit ließ er mich los, und ich konnte in Richtung Aufzug gehen. Haymitch schaute mich verwirrt an, war aber so schlau zu warten, bis die Türen zugegangen waren, bevor er fragte: "Alles okay?"
Aus Reflex wollte ich lügen, schließlich sollte er sich keine Sorgen um mich machen. Aber ich hatte es ihm versprochen.
Ich seufzte: "Nein, ich glaub nicht."

Primrue Mellark | Ungewolltes ErbeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt