War ich enttäuscht? Wütend?
Nein, nichts von alldem.
Nichts war so schlimm wie die Arena. Ich war abgestumpft.
Durch Catos sanften Stoß in den Rücken setzten sich meine Beine von allein in Bewegung. Ja, richtig. Heim gehen.
Willkommen zuhause. War es nicht schön, wieder hier zu sein?
"Na das ist doch mal ein Empfangskomitee, wie es mir gefällt", erklärte Cato und schaute auf mich hinunter. "Niemand da, der blöde Fragen stellt."
Ich konnte nicht anders, ich musste lächeln. Er hatte Recht. Dass mich niemand mochte wusste ich schon immer. War es so nicht also besser, als wenn alle da gestanden hätten und mir die Schuld an Haymitchs Tod gegeben hätten?
So entfernten wir uns von den Gleisen und gingen Richtung Stadt. Als ich um die Ecke bog, hatte ich mich damit abgefunden, dass niemand gekommen war und den Schock überwunden.
Doch dann kam gleich der nächste
Anscheinend hatten nicht alle mich vergessen.
Im Schatten eines Baumes saß "Opa" Haymitch. Nach vorn gebeugt, und mit einer Flasche in seiner Hand. Als er uns hörte zuckte sein Kopf nach oben. Ich blieb stehen, als ich sah wie rot unterlaufen und glasig seine Augen waren. So schlecht war es ihm schon lange nicht mehr gegangen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Das war meine Schuld. Sein Zustand, alles. Wollte er mich überhaupt sehen, oder war er nur durch Zufall hierher gewankt?
Unsicher blieb ich eine Weile stehen, Cato hinter mir. Er schien auch nicht zu wissen, was er tun sollte. Es schien, als würde er zwischen mich auf Haymitch zu schubsen und schützend vor mich springen hin und her schwanken und zu keinen Entschluss kommen, was das Richtige wäre.
Vielleicht war es im Kapitol doch nicht so schlimm gewesen? Oder sollte ich mal Distrikt 2 ausprobieren? Ich war noch nie dort gewesen, aber Cato würde sich auskennen. Vielleicht würde er mich ja mitnehmen, wenn ich fragen würde.
Gerade als ich der Meinung war, dass es eine gute Idee wäre, fing Haymitch an zu lächeln:
"Kommst du jetzt her und begrüßt mich, oder zwingst du mich alten Mann wirklich, aufzustehen?" Als er seine Arme ausbreitete, konnte ich gar nicht schnell genug zu ihm kommen. Er lachte als ich ihm mehr oder weniger in die Arme fiel und drückte mich fest an sich, als hätte er Angst, ich würde wieder verschwinden.
Zumindest einer schien mich vermisst zu haben.
Irgendwann ließ er mich los und schaute mich an, lächelte leicht.
"Du siehst gut aus.", sagte er, als er mich von oben bis unten musterte. "Endlich wieder wie unsere Primrue. Die haben dich ja ganz schön raus geputzt, im Kapitol."
Ich nickte nur, wusste nicht was ich sagen sollte, aber Haymitch schien das nicht zu stören, denn er redete einfach weiter. "Sei nicht traurig, dass niemand hier ist. Es... du bist etwas plötzlich abgereist und hier haben noch nicht alle den Schock über den Tod deines Bruders verarbeitet."
Wieder nickte ich und fragte leise: "Wann ist seine Beerdigung?"
Haymitch schaute kurz verwirrt, dann hilfesuchend zu Cato.
"Was ist los?", fragte ich misstrauisch und schaute ebenfalls zu meinen Mentor, der den Boden vor seinen Füßen auf einmal sehr interessant fand. Bevor ich ihn jedoch noch einmal fragen konnte, sagte Haymitch leise: "Wir haben ihn schon vor zwei Wochen begraben."
Die leisen Worte trafen mich mehr, als wenn er irgendetwas geschrien hatte. Zwei Wochen? Aber es war doch noch keine Woche her, dass er gestorben war und ich -
"Wie lange war ich weg?" Ich schaute nicht zu Cato, aber er wusste, dass meine Frage an ihn gerichtet war.
"Etwas mehr als vier Wochen.", antwortete er leise. Seufzend schloss ich die Augen. Vier Wochen. Hatte Finn - ? "Und Finn?" Auch wenn es keine wirkliche Frage war, verstand mein Mentor.
"Er ist die ganze Zeit bei dir geblieben. Zwischendurch sah es nicht so gut aus. Du warst ins Koma gefallen. Finn erzählte dir die ganze Zeit Geschichten und sang. Hoffte, dass dich das wieder zurückbringen würde."
Und ich hatte ihn angeschrien und vorgeworfen, dass ich nur seine Schachfigur war. Das er mich zu einer neuen Annie gemacht hat.
Zwar konnte Haymitch nicht wissen, was genau vorgefallen war, aber als ich meinen Kopf in meine Hände sinken ließ, erklärte er verständnisvoll: "Er kennt dein Temperament und er weiß, was du durchgemacht hast. Was immer passiert ist, er wird darüber hinweg kommen."
Da war ich mir zwar nicht so sicher, aber ich schenkte Haymitch trotzdem ein dankbares Lächeln. Das schien ihm zu genügen. "Und jetzt hilf mir mal auf. Sonst wachse ich hier noch fest!", befahl er und ich folgte seiner Anweisung. Nach viel Gestöhne und Gefluche stand er dann endlich. Als er seine Hose abklopfte erklärte er: "Peeta ist in der Bäckerei. Er wäre auch gern gekommen, aber er hat viel zu tun. Die Leute brauchen wieder Brot."
"Und Mom?", traute ich mich kaum zu fragen.
Sein Seufzen bestätigte es mir.
"Ist in den Wäldern. Sie geht in der früh und kommt nur kurz nachts heim, um bei deinen Vater zu sein. Das geht so, seit der Beerdigung."
Ich verstand.
"Geh deinen Vater begrüßen!", forderte er mich auf. Auch wenn du es nicht denkst, aber er wird froh sein, dich zu sehen." Haymitch schaute mich noch einmal an. Sein Blick wurde kurz klar und etwas weicher, als er mich noch einmal kurz an sich drückte und murmelte: "Gut, das du wieder da bist, Kleines. Gut das du wieder da bist." Dann ging er einfach, ohne sich auch nur von Cato oder mir richtig zu verabschieden. Eine Weile schaute ich ihm hinterher, bevor ich mich selbst aufmachte. Wenn Haymitch sagte, mein Vater wollte mich sehen, dann würde ich hingehen. Ich war schon ein paar Meter gegangen, als ich bemerkte, dass Cato mir nicht folgte.
Ich drehte mich um zu ihn und fragte: "Kommst du?"
Wieder schaute er nur auf den Boden. "Ich glaube es ist besser, wenn ich jetzt gehe. Du bist hier sicher und sie werden dich nicht meucheln, auch wenn du dir da vielleicht nicht so sicher bist. Aber sie könnten Spaß daran finden, mit mir was zu machen. Keine Lust, das herauszufinden." Immer noch schaute er mich nicht an und seine Worte taten irgendwie weh. Brachten wieder etwas mehr Leere.
"Okay", flüsterte ich, nun auch auf den Boden starrend. So merkte ich nicht, wie er zu mir kam. Erst als er seine schweren Hände auf meine Schultern legte schaute ich auf.
"Ich melde mich, versprochen.", versprach er. Ich nahm meinen Stolz zusammen und nickte. Verdammt nochmal, ich war doch nicht abhängig von einen Mann, der mich wahrscheinlich vor wenigen Wochen noch am liebsten getötet hätte. Er nickte ebenfalls noch einmal, und ging dann wieder Richtung Gleise, wo der Zug noch stand. Anscheinend hatte er nie vorgehabt, länger zu bleiben.
Egal.
Zeit, sich deiner Familie zu stellen, dachte ich mir. Ohne mich noch einmal umzudrehen ging ich los. Ich achtete nicht auf das, was links oder rechts geschah, sondern schaute nur auf den Weg vor mir.
Als die ersten Häuser auftauchten, hörte ich Kinderstimmen, die lachten. In diesem Alter war das Leben noch einfach. Wenn einen etwas schreckliches widerfuhr, vergaß man einfach. Immer mehr Kinder tauchten auf, als ich weiter in die Stadt kam und dann auch die ersten Erwachsenen.
Wenn ich wieder an einen Haus vorbeikam, verstummten alle Gespräche, die Kinder hörten auf zu spielen. Die Meisten starrten mich einfach an, als wäre ich ein Geist. Andere Blicke konnte ich nicht wirklich deuten, oder ich wollte es zumindest nicht.
Ja, tut mir Leid, dass ich nicht gestorben bin, dachte ich missmutig, aber Wut wollte trotzdem nicht aufkommen. Ich konnte es ihnen nicht übel nehmen. Unschuldige starben durch meine Hand, mehr als meine Eltern je zusammen während ihrer Spiele getötet hatten, und ich hatte Haymitch nicht heim gebracht. Versagt. Auf ganzer Linie.
Meine Laune war an einen Tiefpunkt als ich in der Bäckerei ankam. Die Tür quietschte wie immer, nur dass das Geräusch dieses mal in meinen Ohren schmerzte und fremd klang. Nicht mehr wie früher, als es für mich Geborgenheit bedeutete.
Ich sah meinen Vater nicht, wahrscheinlich war er hinten, aber irgendwie konnte ich meine Füße nicht dazu bringen, zu ihm zu gehen. Wie angewurzelt, stand ich im Verkaufsraum. Aber es dauerte nicht lange, bis ich die Stimme meines Vaters vernahm. Er klang wütend.
"Verdammt nochmal, ich hab doch gesagt, dass es erst morgen wieder was gibt. Darf man hier nicht mal in Ruhe um seinen Sohn trau -"
Er brach ab, als er in den Verkaufsraum trat und mich sah. Wir starrten uns gegenseitig an, als hätten wir uns noch nie gesehen. Irgendwie stimmte es ja auch. Ich war anders. Die Spiele hatten mich verändert. Aber sie hatten mir auch gleichzeitig gezeigt, durch was für eine Hölle meine Eltern gegangen waren. Ich sah ihn nun auch in einem anderen Licht. Erzählt zu bekommen, was passiert war und es selbst hautnah zu erleben, waren eben doch zwei verschiedene Dinge.
Und auch äußerlich hatte er sich verändert. Er war immer noch muskulös, wirkte aber etwas hagerer. Gealtert. Sein Gesicht war eingefallen und unter seinen Augen lagen schwarze Ringe. Wir schliefen wohl alle nicht mehr so gut in letzter Zeit. Aber am meisten an seinen Aussehen erschreckten mich seine Augen selbst. Das strahlende Blau schien fast verschwunden. Seine Pupillen waren riesig, fast verdeckten sie das ganze Blau. Ich hatte dieses Phänomen erst selten gesehen. Meistens passierte es, wenn er wieder von Wahnvorstellungen gequält wurde. Nicht wusste, was wahr war und was nicht.
Nach ein paar Minuten konnte ich das Schweigen nicht mehr ertragen. Ohne mich zu bewegen sagte ich zaghaft: "Hi"
Er starrte mich weiter an, brachte nach einer Weile aber auch ein "Hi" heraus.
Ja waren wir nicht wieder gut im Kommunizieren...
Am liebsten hätte ich geweint.
Aus Angst, aus Wut, Verzweiflung. Alles zugleich. Aber ich unterdrückte es. Nicht vor ihm. Er konnte nichts dafür, dass Trius zu schwach gewesen war. Mein Vater war nur ein Opfer, wie der Rest meiner Familie.
"Haymitch hat gesagt, du wärst hier.", versuchte ich es noch einmal. "Ich... ich wollte nur sagen, dass ich wieder da bin."
"Okay", gab er zurück. Er schaute mich an, als wäre er sich nicht sicher, ob ich wirklich da war. Es tat weh, aber ich konnte es akzeptieren. Ich hatte es versprochen. Haymitch kommt zurück. Nicht ich. Es war in Ordnung. Die einzige Frage, die ich mir stellte war nur, ob sie auch so aufgelöst gewesen wären, wenn ich gestorben wäre.
"Soll ich dir helfen?"
"Nein, ist schon gut. Ich komme alleine klar." Auch wenn ich mir da nicht sicher war, widersprach ich ihm nicht. Es würde sowieso nichts bringen. Also wand ich mich wieder Richtung Tür und erklärte: "Na gut. Ich warte dann zuhause auf euch."
Keine Reaktion. Erst als ich die Tür aufmachte hörte ich ihn. "Warte", befahl er. Verwirrt drehte ich mich noch einmal um und schaute ihn an. Sein Blick blieb noch einmal an mir hängen und dann bewegte er sich schneller, als ich es ihm mit seiner Prothese zu getraut hätte. Er überquerte die wenigen Meter mit nur ein paar Schritten und griff nach mir. Bevor ich überhaupt reagieren konnte drückte er mich fest an sich und verbarg sein Gesicht in meinen Haaren.
Ich verstand erst nicht, doch dann merkte ich wie sein großer Körper bebte.
Er weinte.
Schnell griff auch ich um ihn, um ihn zu halten. So wie er es immer gemacht hatte, als ich klein war. Es tat weh, meinen Vater so zusehen. Normalerweise war er immer der Starke gewesen, der Fels in der Brandung. Ich verkniff mir selbst das Weinen. Das würde jetzt nichts bringen. Da ich aber auch nicht wusste, was ich sagen sollte, hielt ich ihn einfach nur.
"Ich bin so froh, dass du wieder da bist.", flüsterte Peeta nach einer Weile. "Es tut mir Leid. Ich bin dein Vater, ich hätte dich davor beschützen sollen."
"Was hättest du denn tun sollen?", erwiderte ich.
"Verzeih, dass ich nicht bei den Gleisen war aber - "
"Schon gut.", unterbrach ich ihn und endlich schaute er wieder auf. Ich zwang mich zu lächeln.
Und dann lächelte er endlich zurück.
"Ich bin wieder da und ich geh nicht mehr weg.", versprach ich und hoffte innerlich, dass ich höchstens dieses kleine Versprechen halten könnte.
Schnell hatte sich mein Vater wieder unter Kontrolle und so nutzte ich die Chance um mich nun an seine Brust zu lehnen. Einfach kurz durchzuatmen. Nach allem was passiert war, hatte sich zumindest das nicht geändert. Hier war ich sicher und geborgen. In den Armen meines Vaters.
"Okay, Kleines. Geh dich ausruhen. Ich muss noch ein bisschen Brot backen, aber ich komm bald nach.", sagte mein Vater und ich nickte.
Als ich ihm noch einmal in die Augen sah, stellte ich erfreut fest, dass die Pupillen zumindest ein wenig zurückgegangen waren und das blau sich zurück kämpfte.
Wir ließen einander los und ich trat aus dem Geschäft.
Wieder verstummten alle, die mich sahen.
Herrlich! Ab jetzt würde immer jeder wissen, wo ich war. Immer dort, wo Totenstille herrschte.
Missmutig beeilte ich mich, nach Hause zu kommen, aber als ich ins Siegesviertel kam, wurden meine Schritte langsamer. Es war seltsam, wieder hier zu sein. Fühlte sich nicht richtig an. Und als ich vor unserem Haus stand, wartete ich darauf, dass Haymitch heraus gerannt kommen würde und mich auslachte, weil ich auf irgendeinen neuen seiner genialen Tricks hereingefallen war. Ich ging zur Haustür, doch als ich meine Hand auf die Türklinke legte, konnte ich nicht weiter. Erinnerungen von meinen Bruder stürzten über mich herein. Überfielen mich. Wie er noch klein war, anfing mir überall hinterher zu laufen. Wie er sein erstes Brot backte, stolz darauf war besser im Bogenschießen zu sein als ich. Alles. Bis hin zu seinem Tod.
Ich legte meinen Kopf gegen die Tür und atmete tief durch.
Da drin erinnerte mich alles an Haymitch. An alles, was wir erlebt hatten. Und es hielt mir vor, was er noch alles hätte machen können. Aber er war nicht da. Würde nicht zurückkommen. Nicht die Tür aufreißen und mich fragen, wo ich so lange war. Mich nie mehr umarmen.
Das würde ich nicht überstehen.
Ich konnte da nicht rein.
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Primrue Mellark | Ungewolltes Erbe
FanfictionMein Name ist Primrue Mellark und ich bin die Tochter von Katniss und Peeta Mellark, Gewinner der 74. Hungerspiele und Überlebende der Rebellion. Dies ist meine Geschichte... Teil 2: http://www.wattpad.com/story/19788964-primrue-mellark-2-ungewollte...