Oben auf den Dach wehte ein kühler Wind.
Ich schaute mich um und fand Dillian wieder an der gleichen Stelle wie bei unserem ersten Treffen.
"Irgendwas interessantes da unten?", fragte ich ihn und war regelrecht stolz auf mich, als er leicht zusammenzuckte.
Er drehte nur den Kopf zu mir.
"Wie bist du schon so früh weggekommen?"
"Finn hat mir geholfen. Er... hat etwas für Ablenkung gesorgt."
"Ja, darin ist er gut. Ihr kennt euch, oder?"
"Ja"
Ich wollte nicht über Finn reden. Ich hatte es gerade erst geschafft mich wieder einigermaßen zu fangen und wollte nicht nochmal an ihn erinnert werden.
Dillian schien zu verstehen.
Er zog seine Jacke aus, um sie um meine Schultern zu legen
. Ich wollte widersprechen, aber als ich mich in sie kuschelte war es einfach zu schön warm, als das ich mich hätte beschweren können.
"Danke", sagte ich und stellte mich neben ihn.
Wir schauten eine Weile nur auf die Stadt hinunter. Das Schweigen war nicht unangenehm. Im Gegenteil. Einfach hier oben mit ihm zu stehen und die Stille zu genießen war, beruhigend.
"Morgen ist es also so weit", fing Dillian nach einer Weile an. "Hast du Angst?"
"Und du?", konterte ich ohne zu antworten.
Er lachte kurz auf.
"Und wie.", gestand er, "Ist ja nicht so, dass ich jeden Tag zum sterben in eine Arena voller anderer Jugendlicher geworfen werde."
"Du musst das nicht tun. Du kannst dich auch alleine durchschlagen, vielleicht gewinnen. Die Chancen dafür wären nicht schlecht.", schlug ich im vor und ich meinte es so.
Er musste sich sicher sein. Ich würde es ihm nicht übel nehmen. Wenn Haymitch nicht wäre, würde ich es auch so machen.
"Nein, schon gut.", flüsterte er, "Ist nicht so, dass wirklich jemand auf mich wartet."
Wir fielen wieder in Schweigen und nach einer Weile wurde mir klar, dass ich ihn noch eine Antwort schuldig war, also antwortet ich.
"Ja." Als Dillian mich verwirrt ansah, erklärte ich: "Ja, ich habe Angst. Aber ich kann sie mir nicht leisten. Ich muss stark bleiben, für Haymitch und für meine Familie."
"Aber du musst nicht für mich stark sein, okay? Ich mach das selber. Bei mir kannst du Angst haben."
Ich versuchte seine Worte zu verstehen.
Er hatte mich dabei nicht angeschaut und tat es auch jetzt nicht. Dillian wirkte so groß und stark. Beschützend.
Ich wollte ihn nicht zu gut kennen lernen, aber ich brauchte eine Pause. Das merkte ich jetzt, wo er es mir angeboten hatte, das verstand ich jetzt. Er könnte für mich übernehmen. Stark sein, wenn ich es mal nicht konnte.
Ich war unschlüssig, doch dann hörte ich auf mein Bauchgefühl und lehnte meine Stirn gegen seinen Oberarm.
Kurz standen wir so da, bevor er den Arm anhob und ihn um mich legte. Bevor ich reagieren konnte war ich in seinen Armen gefangen. Nein, gefangen war das falsche Wort. Sie lagen stark und sicher um mich aber würden mich nicht aufhalten, wenn ich weg wollte. Sie schützten. Ich schloss die Augen und atmete tief ein.
Es tat so gut, einmal nicht die Starke sein zu müssen und sich dabei nicht schlecht zu fühlen.
Keine Ahnung, wie lange wir so da standen, einfach nur auf den Atem und Herzschlag des anderen hörend. Irgendwann wurden selbst die Geräusche auf der Straße immer leiser, bis sie ganz verstummten.
"Es ist spät. Wir sollten schlafen gehen.", erklärte Dillian nach einer Weile und löste sich von mir. Am liebsten hätte ich widersprochen, aber er hatte Recht.
Wir gingen zusammen zum Aufzug und fuhren bis Etage Zwölf. Ich stieg aus und wollte am liebsten einfach gehen, als ich seine Stimme nochmal hörte.
"Tja, dann sehen wir uns morgen in der Arena."
Ich nickte. Es schien ihm zu genügen.
"Nacht", versuchte er es noch einmal und ich entschied mich nachzugeben.
"Nacht", erwiderte ich, kurz bevor die Aufzugtür sich wieder schloss.
Leise ging ich auf die Eingangstür unserer Suite zu. Ich hoffte, dass alle schon schlafen würden.
Da alles dunkel war, schien ich Glück zu haben. Ich schlich Richtung der Schlafzimmer, als ich eine Gestalt auf dem Sofa sitzen sah. Wobei sie eher gekrümmt saß, die breiten Schultern nach vorne gebeugt.
Cato.
"Und, war dein Date toll?", fragte er in einen komischen Ton.
Ich antwortete nicht sofort, sondern ging langsam um das Sofa herum, um ihn in von vorne sehen zu können.
"Kann nicht klagen. Man braucht immer ein paar Verbündete in der Arena."
Er lachte nur kurz auf.
Als ich bei ihm angekommen war, wurde ich wütend.
Auf den kleinen Beistelltisch stand eine fast leere Flasche Hochprozentiger und in seiner rechten Hand hielt er ein Glas.
"Alkohol? Wirklich Cato?"
"Was weißt du schon?", grunzte er mich an.
"Nicht viel. Du bist nicht gerade sehr gesprächig."
Wieder lachte er über mein Kommentar.
"Er hätte dich gemocht", erklärte mein Mentor.
Als er nicht weitersprach, bohrte ich nach. "Wer"
"Mein Vater. Cato. Er hätte dich gemocht. Du wärst wohl ein besseres Kind gewesen."
Okay, jetzt reicht es!
Mein Zorn ging mit mir durch.
Ich schlug ihm regelrecht das Glas aus der Hand, bevor ich, halb über ihn kniend, nach seinen Kragen packte.
"Es reicht Cato! Schau dich doch an! Das ist erbärmlich! Dein Vater hätte mich als Kind gemocht? Schön. Woher willst du das wissen? Ich kannte ihn nicht, du kanntest ihn nicht. Alles was du weißt sind Erzählungen! Und du kannst nicht alles auf seinen Tod schieben! Es tut mir leid das er gestorben ist. Es tut mir auch leid, dass deiner Mutter niemand glaubt. Aber es ist nicht meine Schuld. Nicht Haymitchs und auch nicht deine, verdammt nochmal! Fang endlich an, dein Leben zu leben."
Wir schauten uns gegenseitig an.
Cato eher verwirrt, ich wohl wütend.
Ich war froh das in dem Moment niemand in den Raum kam. Das Schweigen zog sich hin und wir verharrten in unseren Positionen.
Irgendwann unterbrach Cato unseren Augenkontakt und fing an zu reden.
Es war so leise, dass ich es kaum verstand.
"Sie ist tot. Meine Mutter ist tot." Er holte tief Luft, als wenn er das was kommen würde noch nie jemanden erzählt hätte. Wahrscheinlich war es auch so. "Als ich klein war, erzählten alle Leute immer, dass mein Vater wahnsinnig gewesen sei. Als meine Mutter anfing auch immer mehr abzudriften, schauten die Menschen sie komisch an. Mich machte, das immer wütend. Ich verstand nicht. Meine Mutter erzählte mir immer, wie toll mein Vater gewesen war. Das er zu ihr zurück kommen wollte und es auch würde. Als er gestorben war, ist irgendetwas mit ihr passiert. Sie ist in dieser Zeit hängen geblieben. Ihr Kopf konnte nicht verarbeiten, dass er gestorben war. Sie blieb hängen. Bei ihr waren die 74 Hungerspiele noch nicht vorbei und Cato lebte noch. Oft ging ich auf andere los, die über sie oder meinen Vater redeten. Erst später verstand ich, was los war. Ich wollte ihr helfen, kam aber nie zu ihr durch. Mit der Zeit wurde ich immer wütender auf sie. Das sie sich nicht um mich kümmerte, mir nicht half. Als ich 15 war, schrie ich sie an. Versuchte ihr zu zeigen, dass Cato tot war. Und sie verstand. Ich war im ersten Moment froh. Dachte, dass nun alles besser würde. Als ich am nächsten Tag nachhause kam war sie weg. Man fand ihre Leiche zwei Tage später. Ja, sie wusste nun, dass Cato tot war. Sie wollte ohne ihn nicht mehr Leben. Ich zählte nicht. Niemand interessierte sich für mich. Allen war klar, dass der kleine Bastard auch nur verrückt sein konnte, bei diesen Eltern. Und so begann ich es zu unterdrücken. Zeigte niemandem, wie ich wirklich war. Brachte mir alles selbst bei. Trotzdem frag ich mich immer ob sie Recht hatten. Er ist tot, ja. Du hast Recht wenn du sagst, ich sollte weiter Leben. Aber wofür? Es gibt nichts für was ich leben will."
Es erschütterte mich, ihn so zu sehen.
Das war nicht mehr der starke Mann, der uns für den Tod seines Vaters verantwortlich machte, sondern ein kleiner Junge, der einfach nie geliebt worden war. Ich hatte Recht gehabt. Er hat das gleiche durchgemacht, wie ich.
Nur das er nie eine Familie hatte, die hinter ihn gestanden ist und ihn wieder aufgebaut hatte. Keinen Haymitch, der ihm half die Wut unter Kontrolle zu halten. Ich wollte mich entschuldigen, aber ich wusste, dass er das nicht hören wollte, deswegen schlug ich ihn lieber was vor.
"Wie wäre es wenn du langsam anfängst. Stück für Stück."
Nun schaute er interessiert zu mir auf.
"Und was wäre das deiner Meinung nach?"
"Du willst dieses Spiel gewinnen, richtig?" Er nickte nur, "Nun, ich werde nicht lebend raus kommen, das sollte dir mittlerweile klar sein. Also wirst du Haymitch so gut es geht unterstützen, um ihn zu helfen."
"Und danach?"
"Danach siehst du weiter. Ich sage doch: immer Stück für Stück. Irgendwann wirst du etwas finden, für was es sich zu leben lohnt. Und noch etwas." Wieder schaute er mich wartend an. "Kein Alkohol mehr!"
Ich sagte es mit so einer Inbrunst, dass ich mich fast selbst vor mir erschrak aber Cato blieb vollkommen erst.
"Abgemacht."
"Gut."
Wir starrten uns weiter an. Dieses mal jedoch eher peinlich berührt.
Ich war nicht gut darin, wenn andere mir ihre Gefühle oder Lebensgeschichten beichteten. Besonders wenn diese Person mich wahrscheinlich vor wenigen Wochen noch am liebsten persönlich getötet hätte.
Ich merkte erst nach ein paar Sekunden, dass ich immer noch auf seinen Schoß hockte.
Peinlich berührt sprang ich regelrecht auf und zauberte damit ein kleines Lächeln auf Catos Gesicht.
"Geh schlafen. Morgen wird es ernst.", erklärte er und räumte sein Glas weg.
"Nacht.", sagte ich noch zu ihm, bevor ich in Richtung meines Zimmers ging, ohne auf eine Antwort zu warten.
In meinem Bett hatte sich mein Bruder schon breitgemacht.
Langsam schob ich ihn etwas zur Seite, damit ich auch noch Platz hatte.
Ich weckte ihn nicht, doch als ich noch nicht einmal richtig unter der Decke war, kuschelte er sich auch schon an mich.
Ich genoss es eine Weile, ihn einfach nur beim schlafen zuzusehen. In der Arena würde ich keine Zeit dazu haben und danach würde ich es nie wieder sehen.
Auch Stunden später wusste ich noch nicht, wie mein kleiner Bruder es fertigbrachte, zu schlafen. Ich bekam kein Auge zu.
Als die Sonne über den Horizont trat, kletterte ich aus dem Bett und schlich ins Bad. Wenn ich schon nicht schlafen konnte, konnte ich mir höchstens noch eine lange, heiße Dusche gönnen.
Danach war ich weitestgehend entspannt und zog mir einfach die nächstbesten Sachen an. Die richtige Kleidung würde ich erst im Startraum der Arena bekommen.
Als ich wieder aus dem Bad kam, schlief Haymitch immer noch und ich weckte ihn sanft.
Kurz schaute er mich mit verschlafenen Lächeln an, bevor ihn die Erkenntnis traf, welcher Tag heute war.
Sein Blick wurde panisch und ich umfasste schnell sein Gesicht.
"Schsch, es ist okay Haymitch. Alles okay", redete ich beruhigend auf ihn ein, bis zumindest die Panik ein wenig aus seinen Augen verschwand. "Wir schaffen das. Wenn du hochkommst, denk nur daran, dich zu orientieren. Es wird einen Wald geben. Es gibt fast immer einen. Dann such mich und wenn der Startschuss fällt läufst du auf mich zu so schnell du kannst, okay? Schau nicht nach links oder rechts, lauf einfach nur zu mir."
Er nickte.
Langsam befreite er sich aus meinen Armen und stand auf. Ohne etwas zu sagen, ging er noch einmal in sein Zimmer.
Ich ließ ihn allein. Ich verstand seine Angst, spürte sie selber in meinen Knochen.
Effie war schon wach und wollte mir etwas zu essen geben, aber auch wenn sie Recht hatte, konnte ich einfach nichts essen.
Es dauerte nicht lange bis Haymitch kam. Unsere Betreuerin versuchte es nun bei ihm, schaffte ihn aber auch nur zu einem Tee zu überzeugen.
Cato, wahrscheinlich durch Effies Stimme aufgeweckt, tauchte wenig später aus.
Er sah gut aus. Ausgeschlafen, nicht verkatert. Gott sei Dank. Er schwang keine großen Reden, oder gab uns irgendwelche Tipps.
Innerlich dankte ich ihn dafür.
Er war zwar unser Mentor, aber nie selber in der Arena gewesen. Woher sollte er also wissen was das Beste war zu tun. Ich war zwar ein Kämpfer aber eben klein und nicht so stark. Ich brauchte Waffen. Also gab es keinen anderen Weg als zum Füllhorn zu gelangen, und mir Messer zu besorgen.
Die Zeit verging viel zu schnell, als es losging. Cato ging mit uns aufs Dach und zwei Hovercrafts tauchten auf.
Eins für mich, eins für meinen Bruder.
Als die Leitern heruntergelassen werde, lächele ich ihn noch einmal aufmunternd zu, bevor ich meine ergriff und nach oben gezogen werde.
Caleo erwartet mich oben schon, als ich oben ankam. Wir saßen schweigend nebeneinander, während wir über die Stadt flogen.
Bald worden die Fenster verdunkelt und ich fühlte mich gefangen. Meine Stylistin nahm meine Hand und ich drückte sie dankend.
Ich ließ sie nicht mehr los, bis wir in den Katakomben angekommen waren. Der Gedanke, mich für das Spiel umzuziehen, ließ meinen Magen grummeln und ich war froh, das ich nichts gegessen hatte.
Schweigend half mir Caleo in meine Kleidung. Schwarze Stiefel, schwarze Hotpants und ein wieder ärmelloses T-Shirt. Darüber eine einfache schwarze Strickjacke aus speziellen Stoff die einen bei Kälte warm und bei Wärme kühl hielt.
Mein langes, schwarzes Haar flocht sie mir, so wie Cinna es einst bei meiner Mutter getan hatte. Am Ende gab sie mir noch das Armband meiner Eltern. Ich legte es an und fühlte mich ein bisschen besser.
Die restlichen Minuten wurden zur Qual. Am liebsten wäre ich auf und ab gegangen, aber Caleo hielt mich davon ab, indem sie mich festhielt. Sie sprach immer noch nicht mit mir und ich hatte, das Gefühl bald durchzudrehen.
Dann war die quälend lange Zeit vorbei und ich wünschte sie mir zurück.
Doch dieser Wunsch wurde nicht war.
Wir gingen in einen anderen Raum, in dessen Mitte eine Plattform war. Caleo brachte mich zu ihr und ich stellte mich darauf. Ich hatte das Gefühl, nicht richtig Luft zu bekommen und als sich eine Glaskuppe über mich schloss wurde es schlimmer. Meine Augen fingen an zu tränen.
Nur durch Zufall sah ich zu meiner Stylisten zurück, aus deren glutroten Augen Tränen kullerten. Sie küsste ihre drei mittleren Finge und hielt sie gegen die Glaswand die uns trennte.
Meine Hand hob sie wie von alleine und drückte von der anderen Seite dagegen.
Ich konzentrierte mich nur darauf, spürte regelrecht die Berührung. Als sie die Plattform langsam anhob, ließ ich nicht los. Bis zur letzten Sekunde blieben unsere Hände so nah beieinander, wie es möglich war.
Und dann war der Kontakt unterbrochen.
Es war dunkel um mich herum und kurz darauf wurde ich von gleißenden Licht und schwüler Luft getroffen.
Ich war in der Arena.
Die Spiele hatten begonnen.
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Primrue Mellark | Ungewolltes Erbe
FanfictionMein Name ist Primrue Mellark und ich bin die Tochter von Katniss und Peeta Mellark, Gewinner der 74. Hungerspiele und Überlebende der Rebellion. Dies ist meine Geschichte... Teil 2: http://www.wattpad.com/story/19788964-primrue-mellark-2-ungewollte...