Sechs Augen

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Francis zog die Stirn kraus und fühlte nun doch etwas angepisst.

"Langsam verstehe ich, was Jesse meinte. Zuerst wart ihr alle ganz scharf darauf, dass ich meinen Frust etwas zielgerichteter abbaue und sobald es dann endlich dazu kommt, ist es euch auch nicht recht! Ich habe doch getan, was ich wolltet, oder? Was ist jetzt wieder falsch daran?"

Mittlerweile ging ihm das doch gehörig auf die Nerven. Er war niemandem Rechtfertigung schuld und das war verdammt nochmal SEIN Schiff.

"Was ich tue oder lasse steht hier nicht zur Diskussion, verstanden?!"

Neil legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm, aber Francis zog ihn genervt weg.

"Ich weiß, Käpt'n und so war das auch überhaupt nicht gemeint. Wir sind alle sehr froh, dass ihr soviel Spaß miteinander habt, aber Jesse... er verwechselt da gelegentlich etwas. Für ihn sind Lust und Liebe manchmal nicht zu unterscheiden und das letzte Mal, als er im Bett eines Kapitäns gelandet ist, ging es sehr schlecht aus."

Francis war sich nicht sicher, ob er sich jetzt angegriffen fühlen sollte (als ob es ihm nur um das Eine ging) oder doch die Neugierde siegte. "Was meinst du? Wann war das denn?"

Anne seufzte und übernahm das Erzählen.

"Eigentlich ist das ja irgendwie privat und geheim und so, aber ich finde du solltest das wissen. Jesse war früher ein Stricher und ein sehr erfolgreicher noch dazu. Vielleicht hast du schon mitbekommen, das er wirklich sehr gut ist, in dem was er tut."

Francis räusperte sich, sagte aber nichts dazu.

"Für ihn war das die einzige Möglichkeit auf der Straße zu überleben und er hat seine Technik perfektioniert, in dem er immer genau das war, was sein Kunde gerade brauchte."

"Anne, ich weiß von seiner Vergangenheit und es mir herzlich egal. Und bei allem Respekt, ich bezahle nicht dafür..."

"Ich weiß. Mittlerweile hat er gelernt, seine eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen und durchzusetzen. Aber damals, nunja, sein Kapitän nutzte die Tatsache aus, dass Jesse mit vollem Körpereinsatz spielte. Er war noch ein Junge und die Vorlieben des Käpt'ns entwickelten sich schnell in eine bestimmte Richtung. Mein Bruder hat generell nichts dagegen, wenn es ein bisschen härter zugeht, aber dieser Mann hat alle Regeln gebrochen, die es zu brechen gab. Jesse hatte schlicht zuviel Angst, um sich zu wehren und irgendwie dachte er ja auch, dass Flint... das der Käpt'n ihn liebte."

Oh, der Name war Francis durchaus ein Begriff. Und die Geschichte, die damit zusammenhing, ging wirklich nicht gut aus.

"Ist Flint nicht bei einer Meuterei gestorben?"

Neil nickte und sprach nun weiter.

"Genau das. Die Mannschaft war schon lange unruhig und unzufrieden und wollte ihren unberechenbaren Anführer wirklich gerne loswerden, aber er schaffte es, eine solche Atmosphäre der Angst zu erzeugen, dass sich keiner traute, etwas zu unternehmen. Irgendwann hatten wir dann Besuch von einem englischen Offizier, einen ganz besonderen Freund des Käpt'ns und als sie Jesse in die Kajüte riefen, hatte nicht nur ich ein verdammt schlechtes Gefühl.

Nachdem wir uns erst ein bisschen Mut angetrunken hatten, wollten ich und ein paar andere nur mal kurz nachsehen, ob alles in Ordnung war. Man hörte kaum etwas, außer hier und da ein Gerumpel und dann ein leises Geräusch, dass mich handeln lies. Ich werde dir die Einzelheiten ersparen und es ist sowieso nicht mein Recht, das zu erzählen, aber...
diese beiden Teufel haben Jesse aufs Übelste gequält und erniedrigt und diesmal hat er sich gewehrt. Aber gegen zwei erwachsene Männer hatte er keine Chance. Sie hatten ihn geknebelt, er konnte weder schreien noch beißen und man sah ihm an, dass dieses Stück Stoff nicht das erste war, war ihm an diesem Tag in den Mund gestopft worden war..."

Neil schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Er wollte nicht weitererzählen, er wollte sich nicht erinnern, an den Anblick seines kleinen Schützlings, wie er blutend und weinend... Nein.

"Er konnte nicht verhindern, was sie mit ihm taten. Eine komplette Schiffsmannschaft, der endgültig der Kragen geplatzt war, allerdings schon. Das war nur der letzte Tropfen gewesen und diesmal wich keiner zurück. Es endete in jeder Menge Gewalt, es gab zwei Tote und eine Menge Verletzte, aber Flint war beseitigt. Und ich habe Jesse schwören lassen, das er sich nie wieder mit einem Mann einlassen würde, der so weit über ihm steht, das er damit Macht über ihn hat. Und soweit ich weiß, hat er sich seitdem daran gehalten. Dieses Erlebnis, so schrecklich es gewesen sein mag, hat ihn gründlich aufgeschreckt. Seitdem sind seine sexuellen Abenteuer stets gleichberechtigt und genau das hat ihn ziemlich erfolgreich in Bezug auf ebendiese Abenteuer gemacht. Er weiß sehr genau, was er will und was er nicht will. Außerdem fing er an, seine Karriere etwas ernster zu nehmen und was das angeht, bin ich verdammt stolz auf ihn."

Francis war still geworden. Sie wollten ihn doch hoffentlich nicht mit Flint vergleichen? Jesse hatte ihm sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass er mochte, was sie zusammen taten und er würde niemals... Und auch sein Maat würde ihn doch nicht...

"Willst du sagen, er würde mich anlügen, um zu bekommen, was er will?"

"Nein." fiel jetzt wieder Anne ein.

"Er ist verdammt ehrlich. Manchmal ein bisschen zu ehrlich, wenn du mich fragst. Du kannst dich darauf verlassen, dass er immer meint, was er sagt und sagt, was er denkt und dass er nie etwas tun würde, was er nicht will. Ich will dir und auch ihm wirklich nichts unterstellen, aber... Ach, verdammt, ich liebe ihn, weißt du. Ich will, dass es ihm gut geht. Und ich sehe doch, wie sehr er sein Herz verloren hat. Bitte, sei gut zu ihm."

Francis seufzte.
"In Ordnung, ihr beiden. Ich weiß eure Ehrlichkeit und Besorgnis sehr zu schätzen, aber ich glaube, wie wir diese Sachen zwischen uns beiden regeln, dass müsst ihr schon Jesse und mir überlassen. Ich kann euch versichern, dass es mir ebenfalls sehr ernst ist, aber ich möchte keine Warnungen oder Unterstellungen mehr hören."

Er hob die Hand und brachte damit Anne zum Schweigen, bevor sie etwas sagen konnte.

"Jesse ist kein Junge mehr und ich bin nicht Flint. Wir wissen beide sehr genau, was wir tun und was wir voneinander wollen. Vertraut mir, vertraut ihm, dass wir schon aufeinander achten werden. Ich würde lügen, würde ich behaupten, ich könnte vorhersehen, was daraus wird, aber das ist Jesses und meine Angelegenheit. Nicht die eure. Habt ihr das verstanden?"

Neil sagte nichts, nickte nur knapp. Er zumindest schien sich daran zu erinnern, wer hier das Sagen hatte. Anne sah ihn mit großen Augen an und stammelte: "Aye, Käpt'n. Und darf ich noch etwas sagen?"

"Was denn?"

"Du hast gerade nur von "uns" gesprochen, ohne dich zu verteidigen oder etwas zu versprechen. Das genügt mir, das ist mehr als ich erwartet habe, weil du doch der Käpt'n bist und alles. Danke dafür. Damit bin ich sowas von raus."

Sie grinste und Neil war ebenfalls erleichtert.

"Danke für deine Zeit, Sir, und danke, dass du uns das nicht übelnimmst, weil..."

"Euch liegt sehr viel an Jesse, ich weiß. Soll ich euch was sagen? Mir liegt ebenfalls sehr viel an ihm, mehr als ihr euch vorstellen könnt."

Damit war dieses unangenehme Gespräch endlich beendet und Anne verschwand mit Neil unter Deck, um die Verwendungsmöglichkeiten von Vanille zu besprechen.

Francis machte sich auf den Weg zurück, alle Gedanken an Intimitäten nun doch gedämpft von dieser verbalen kalten Dusche, dafür mit einem sehr großen Bedürfnis im Herzen, seinen Freund einfach in den Arm zu nehmen. Wenn er näher darüber nachdachte, hatte er diese Geschichte mit Flint nicht zum ersten Mal gehört, aber der Name Dawson war in der ihm bekannten Version der Geschichte nie gefallen. Ihm war nicht klar gewesen, dass es sich bei dem Jungen, der eine der schnellsten Meutereien der Geschichte der Piraterie ausgelöst hatte, um seinen jetzigen Maat gehandelt hatte, aber das spielte eigentlich auch keine Rolle. Seine eigene Vergangenheit enthielt ebenfalls einige unschöne Momente, die er lieber vergessen würde und er hatte nicht vor, diese alte Geschichte jetzt zum Thema zu machen. Was sie jetzt und hier zusammen hatte, das war wichtig, auch wenn sie beide ein halbes Leben mitbrachten.

Woher wir kamen (Piratenblut 3)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt