So wie wir sind

104 11 0
                                    

Es war fast ein Jahr später, als Anne endlich nachgab. Helena hatte nicht weiter gedrängt, aber immer offen gelassen, was aus ihrer Bekanntschaft alles werden konnte. Sie verbrachten viele Abende zusammen, erzählten gegenseitig aus ihrem Leben und Anne fand es erstaunlich leicht, sich dieser Frau anzuvertrauen. Sie war höchsten ein paar Jahre älter als sie selbst, aber in Annes Augen hatte sie schon alles gesehen, alles getan und besaß eine Weisheit, die ihr selbst noch fehlte. Auch wenn sie eine Hure war. Auch wenn es Abende gab, an denen Anne nur mit einem Becher am Tresen saß und Helena dabei zusehen musste, wie sie mit Männern schäkerte, sich betatschen ließ und schließlich mit einem von diesen gierigen Kerlen nach oben ging. Was sie dort taten war offensichtlich, aber Anne fragte sich immer, wie Helena diese groben Zärtlichkeiten ertrug. Es schien ihr sogar irgendwie Spaß zu machen, denn wenn sie dann wieder nach unten kam, war sie stehts frisch frisiert und guter Laune, aber vielleicht lag das auch an den Münzen, die in ihrer Schürze klapperten. Sie musste ziemlich gut sein, denn sie hatte einen festen Stamm aus Verehrern, die sich darum drängten, Zeit mit ihr zu verbringen. Manchmal fingen sie schon im Schankraum an, an ihr herumzufummeln und als sich die Röcke hoben oder ungeschickt eine Brust entlößt wurde, konnte Anne nicht anders als hinzusehen.

Eines Abends, als Anne ganz frisch von der letzten Kaperfahrt zurückgekehrt war, machte Helenas noch einmal ein deutiges Angebot. Sie hätte heute abend frei, aber immer noch ein Zimmer zu ihrer eigenen Verfügung und sie würde sich sehr darüber freuen, wenn Bonny ihr von ihren Abenteuern auf See erzählen würde, aber diesmal in etwas privaterer Umgebung.

Anne hatte Geld in den Taschen und war endlich mehr als ein gewöhnlicher Schiffsjunge und das alles machte sie mutig genug, das Angebot anzunehmen.

Helenas Zimmer wirkte einladend, wenn auch ein wenig überladen mit Kissen, Decken, Spitzenunterwäsche und allerlei Kleinkram, der das Leben als käufliche Geliebte so mit sich brachte. Es war nicht so ordentlich, wie Anne das vermutet hatte, aber gerade das fand sie sehr sympathisch. Ein bisschen Unordnung stand Helena gut, es machte sie irgendwie menschlicher und nicht ganz so perfekt, wie sie Anne immer vorkam.

"Ist das das Bett, in dem du..."

"Manchmal. Es gibt spezielle Räume, in denen wir uns um unsere Kunden kümmern, hierher kommen nur Menschen, die mir sehr am Herzen liegen."

"Hm-hm."

Anne wanderte ein wenig im Zimmer umher, berührte Bettlaken und kleine Ziergegenstände und blieb schließlich vor einer geräumigen Kommode mit Spiegel stehen. Hier standen allerlei Fläschchen und Bürsten, Puderquasten und Schwämmchen herum. Der Spiegel ließ sich an den Seiten einklappen und erlaubte es, sich mit ein bisschen verrenken auch von hinten sehen zu können. Jetzt zeigte das Bild nur Anne selbst und sie fragte sich, ob der Mensch im Spiegel eigentlich sie selbst war. Sie sah auf den ersten Blick wie ein junger Mann aus. Die roten Haare kurz und chaotisch, das Hemd schmutzig, der Schlapphut in ihrer Hand speckig und verschlissen. Sie hatte hier keinen Platz, zwischen all diesen zarten Beweisen von Helenas Weiblichkeit. Wie hatte sie nur geglaubt...

Ganz leise war Helena hinter sie getreten und drückte sich nun leicht von hinten an ihren Rücken. Ihre Hände fuhren um ihre Taille und dann hauchte sie ihr einen Kuss auf den Nacken. Anne seufzte.

"Helena... ich..."

"Was auch immer du jetzt sagen willst, tu es nicht. Du bist genau richtig, so wie du bist, Anne. Ich würde dich jetzt nicht wunderschön nennen, aber das willst du ja auch gar nicht sein, oder?"

Anne drehte sich zu ihr um und nahm nun ihrerseits dieses zarte Wesen in die Arme.

"Ich weiß es nicht, Helena. Ich weiß nicht, was ich sein will. Ich weiß noch nicht einmal, wer ich sein will."

Woher wir kamen (Piratenblut 3)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt