Erbstücke

75 8 0
                                    

"Und hast du gefunden, wonach du gesucht hast?"

Sie saßen zusammen an einem Tisch, über ihr jeweiliges Abendessen gebeugt und nachdem der erste Hunger gestillt war, gemerkte Jesse, wie still sie bisher beide gewesen waren.

"Ja, das habe ich. Möchtest du es sehen?"

"Dafür dass du vorher so ein Geheimnis daraus gemacht hast, aber sicher."

Francis zog ein kleines Paket aus der Tasche. In ein Tuch eingewickelt war eine kleine Schatulle, die er jetzt daraus hervorzog.

"Ich war mir nicht sicher, ob er noch da war, deshalb wollte ich vorher nichts sagen. Das ist etwas, das meiner Familie sehr wichtig ist. Es gibt nur zwei davon, jeweils einen für den älteren und einen für den jüngeren Drake und ich war in jungen Jahren so dumm... naja, jetzt habe ich ihn ja wieder."

Jesse nahm das Kästchen entgegen und klappte neugierig den Deckel auf.

Darin lag, eingeschlagen in blauen Samt, ein Siegelring. Ziemlich massiv, leicht angelaufen und unübersehbar uralt. Er nahm ihn vorsichtig heraus und betrachtete ihn. An der Seite waren Zeichen eingeritzt, die er nicht lesen konnte, aber vorne auf der flachen Seite, die in heißes Wachs gedrückt wurde, war ein Drache geschnitzt.

"Das ist wunderschön."

"Das ist unser Familiensiegel. Wenn mein Vater ein bisschen angeschickert war und die Nächte lang und dunkel waren, hat er mir immer die dazugehörige Familienlegende erzählt."

"Und die wäre?"

Francis lächelte leise in sich hinein. Seine Augen blitzten dabei und man konnte den Junge erkennen, der damals so ehrfürchtig seinem Vater lauschte, in dunklen Winternächten, wenn der Wind um die Mauer pfiff.

"Dieser Ring kam damals mit unseren Vorfahren nach England. Auf einem Schiff aus dem Norden, dessen Bug ein Drachenkopf schmückte. Mein Urahn hatte rote Haare, ein verdammt großes Schwert und einen unbändigen Eroberungswillen... Und wenn es dann ein bisschen später wurde und ich bereits ein bisschen älter war, hat er noch im Detail beschrieben, wie sehr die Frauen auf dieser Insel diesen rothaarigen Hünen vergöttert haben und wie er sich schließlich eine Braut erwählt hat und mit ihr ungefähr hundert Kinder gezeugt hat."

"Willst du mir im Ernst sagen, dass dieser Ring so alt ist?"

"Ich sage gar nichts. Das ist nur das, was mir mein Vater erzählt hat."

Jesse legte den Drachenring wieder zurück und sah seinen Freund an.

"Du steckst voller Überraschungen, mein Lieber. Du bist also der Sproß eines Wikingers und einer Sachsenprinzessin, ja?"

"Natürlich."

"Und ich dachte, ich schlafe mit einem gesetzlosen Piraten. Wie man sich täuschen kann..."

"Und du? Was hast du heute getan?"

Jesse schloß die Augen. "Ich... bin ein paar Erinnerungen nachgegangen. Sagen wir so, nicht alle davon waren so angenehm wie die deinen."

Francis legte seine Hand auf die seines Freundes.

"Hey, was ist passiert? Möchtest du darüber reden?"

"Nicht hier." Jesse wedelte kurz mit der Hand, um ihre Umgegung einzuschließen. "Aber vielleicht möchtest du später noch einen kleinen Spaziergang machen?"

"Im Dunkeln durch London schleichen, nichts lieber als das."

Und so endeten sie in dieser Nacht wieder an der Themse, ganz in der Nähe des umgefallenen Steins, auf dem Jesse heute nachmittag gesessen hatte. Er erzählte flüsternd, wie es ihm ergangen war, ohne jedoch zu erwähnen, warum ihn der Anblick des halb verfallenen Galgens auf der anderen Seite des Flußes so traurig machte. Manche Erinnerungen sollten die seinen bleiben und es würde auch nichts nutzen, wenn Francis jeden kleinen Schmerz teilte, der ihm jemals zugefügt worden war.

Woher wir kamen (Piratenblut 3)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt