Unterwegs

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"Und wieso müssen wir unbedingt nach London?"

Jesse war sich noch nicht wirklich sicher, was er von dieser Idee halten sollte. Was genau wollte Francis da? Eigentlich war es doch um seine Eltern gegangen und diesen Brief, den sie ihm geschickt hatten? Oder gab es da noch etwas, das Francis ihm nicht erzählt hatte?

"Erstens, ich war schon ewig nicht mehr da. Zweitens, ich habe einen Auftrag von Morgan. Und drittens, es gibt da etwas, was ich mir zurückholen will."

"Du hast einen Auftrag? Und wieso erfahre ich das erst jetzt?"

Francis zuckte die Schultern. "Es ist wirklich nichts Aufregendes. Es geht nur um einen Brief, den ich überbringen soll. Henry spielt ja gerne ein bisschen den Verwalter von Tortuga und da ein Großteil von uns legitimierte Freibeuter sind, hat er da wohl ein bisschen Korrespondenz zu führen."

"Hast du hineingeschaut?"

"Nein," seufzte Francis. "Auch wenn ich das gerne getan hätte. Aber dieses Siegel ist einzigartig und eigentlich möchte ich eine Verabredung auch nicht durch meine Neugier platzen lassen. Er vertraut mir, dass ich die Botschaft überbringen, ich vertraue ihm in anderen Dingen. Eine Hand wäscht die andere und so."

"Irgendwie bin ich mir bei Morgan nie sicher, ob sein Geltungsdrang nicht irgendwann seinen Freiheitsdrang übertrumpfen wird."

Jesse grummelte noch ein bisschen vor sich hin, sah dann aber ein, dass ein Auftrag nun mal ein Auftrag war.

Sie würden also nach London fahren. Diesmal nicht zu Pferde und darüber war Jesse wirklich froh. Sie würden sich einen Wagen von Francis Eltern ausborgen und damit ganz gediegen in die Hauptstadt kutschiert werden. Dort würden sie in einem Gasthaus übernachten und nach ihren Erledigungen wieder nach Hause zurückkehren.

Mrs Drake war nicht besonders erfreut, ihren Sohn jetzt schon wieder gehen lassen zu müssen. Aber sie sah ein, dass ein Auftrag seines "Kommandanten" Vorrang hatte und sie ihre mütterlichen Gefühle eben erst in ein paar Tagen wieder ausleben konnte.

Wie lange sie bleiben würden, hing von vielen Dingen ab, und Francis wollte sich nicht wirklich festlegen lassen.

"Wir kommen auf jeden Fall noch einmal hierher, bevor wir wieder auslaufen. Aber das muss erledigt werden, Mutter. Deshalb hatte ich überhaupt erst die Gelegenheit auf ein bisschen Heimaturlaub."

Sie nickte, ein bisschen zweifelnd, aber was sollte sie schon tun.

Sie beschlossen noch einen weiteren Tag und eine weitere Nacht zu bleiben, um genug Zeit für die Vorbereitungen zu haben. Mit einer Kutsche würden sie die Strecke in einem Tag schaffen, solange sie nicht zu lange rasteten, aber gerade deshalb mussten sie sorgfältig und möglichst leicht packen.

Agnes sollte ihnen zur Hand gehen, aber das Mädchen war ungewöhnlich scheu geworden und wagte es in ihrer Gegenwart kaum, ihnen in die Augen zu sehen. Lag es daran, was sie am ersten Abend gesehen hatte? Oder zu sehen geglaubt hatte?

Die Stallknechte waren auf die ihnen eigene raubeinige Art dagegen sehr freundlich. Francis suchte sich zwei Pferde aus, half die Kutsche vorzubereiten und hatte ein wenig das Gefühl, als wäre alles wie früher, als er noch klein war. Ein Ausflug nach London, wie aufregend!

Jesse konnte ihm da nicht wirklich helfen, aber wie sich herausstellte, genoss seine Mutter die Gesellschaft seines Freundes sehr und während Francis also schwitzend unter der Kutsche lag, trank Jesse Tee, aß Kekse und plauderte mit der alten Dame.

Was seine Mutter dachte, das war Francis auch nicht ganz klar. Keiner seiner Eltern hatte genauer nachgefragt, seine Erklärungen schienen ihnen zu genügen. Aber seine Mutter warf ihm immer mal wieder ganz komische Blicke zu und es kam ihm schon seltsam vor, dass sie nicht einmal nach einer möglichen Hochzeit gefragt hatte. Dieses Thema war ihr früher furchtbar wichtig gewesen und das war auch einer der Gründe, weshalb sie am Anfang so vehement gegen seine Karriere auf See gewesen war.

Woher wir kamen (Piratenblut 3)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt