Die Liebe ist ein gieriges Monster

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"Na, du kannst ja schon wieder ganz gerade laufen, sieh mal an!"

Anne saß auf einem Faß und fummelte mit einem Zahnstocher in ihrem Gebiss herum. Ihr Schlapphut saß wie immer schief auf ihrem Kopf und sie beäugte ihn aus dem Schatten der breiten Krempe. War das jetzt Kritik oder Besorgnis oder gar Anerkennung?

"Ich kenne ja nicht viele Menschen, die sich mit einem zerhackten Bein noch so rannehmen lassen würden..."

Jesse lehnte sich gegen das Faß, sehr praktisch, wieder eine Gelegenheit zum Verschnaufen.

"Hast du etwa zugesehen?"
"Ich glaube, das ganze verdammte Schiff hat zugesehen."
"Ah so."
"War gut?"
Jesse grinste breit. "Sehr."

Anne zupfte ein bisschen an seiner Hose herum, um sich den Verband anzusehen.

"Das hat er gut gemacht, es blutet ja kaum noch."
"Nur wenn ich mich zu viel bewege. Deshalb stehe ich ja hier und plaudere mit dir. Na was gibt es denn Neues, du hast mir noch gar nichts von Helena erzählt."
Anne schloß gequält die Augen. "Es ist kompliziert."
"Ist es das nicht immer?"
"Ja schon. Aber Helena ist noch komplizierter."
"Möchtest du darüber reden?"
Anne schwieg.
"Du bist eifersüchtig?"
Sie nickte.
"Sie ist eine Hure, das weißt du?"
"Ja schon, aber..." Sie unterbrach sich, schlug mit der flachen Hand auf das Fass und eine dunkle Wolke zog über ihre Miene.
"Sie müsste das nicht tun, weißt du? Ihr gehört der ganze verfickte Laden. Sie könnte einfach nur eine Puffmutter wie die anderen sein und die Mädchen für sich arbeiten lassen. Und von allen Männer auf der Insel... Warum ausgerechnet Henry?"
"Morgan? Oha. Aber er zahlt dafür, ja?"
"Und das nicht wenig. Meine Prinzessin verkauft ihren Körper nur, wenn es sich lohnt. Vermutlich sollte ich froh sein, dass sie mir ihre Gunst umsonst schenkt, ich könnte mir das nie leisten."
"Du kannst sie nicht zwingen, dir treu zu sein, Anne. Und wenn ich mich richtig erinnere, war das von Anfang an der Deal. Ihr habt Spaß zusammen, aber sie lebt ihr Leben, wie sie es für richtig hält."
"Aber es tut weh, Jesse."

Das brachte ihn zum Schweigen. Dieses Ausschließlichkeit war Jesse neu. Bisher hatte es für sie beide keinen Grund gegeben, sich an eine bestimmte Person zu binden und von dieser gar Treue zu verlangen. Dieses Konzept passte nicht zu ihrem Lebensstil, aber wenn er darüber nachdachte, dass Francis etwas mit anderen Menschen, vielleicht mit Frauen, haben konnte... Er war sich nicht sicher, wie er das finden würde. Er hatte derzeit keine andren Bedürfnisse als die, um die sich Francis kümmern konnte, aber der Beruf als Piratenkapitän brachte es zum Glück nicht mit sich, in fremden Betten zu turnen. Gefallen würde es ihm sicher nicht, aber Francis war eine freier Mann. Und Helena war eine freie Frau.

"Liebst du sie?"
Anne verzog das Gesicht. "Verdammt, ja."
"Und sie dich?"
"Das sagt sie."
"Dann wird dir wohl nichts anderes übrigbleiben, als ihren Beruf und euer Privatleben voneinander zu trennen und wegzuhören, wenn Morgan anfängt zu prahlen. Du tut er doch, oder?"

Sie nickte.

"Es ist sehr Henrys Art zu übertreiben, glaub nicht alles, was du hörst. Und glaube ihr, wenn dir sagt, dass sie dich liebt."
"Dass ich von dir mal Ratschläge in Beziehungsfragen kriegen würden, hätte ich auch nicht gedacht."

Ach, Helena...

Das Schicksal musste sie zusammengeführt haben, so war es doch. Schon als sie sich zum ersten Mal begegnet waren, lag eine Magie in der Luft, die Anne so noch nie gefühlt hatte. Und auch wenn sie sich seitdem immer mal wieder gestritten, getrennt, aus den Augen verloren, vorsätzlich ignoriert oder offen angefeindet hatten, so richtig voneinander losgekommen waren sie nie. Und das war es auch gar nicht, was sie wollten. Helena hatte ihr Unternehmen, Anne ihr Entermesser und ihre Kaltblütigkeit, die ihr einen Platz in einem männerdominierten Beruf verschafft hatte. Wenn man es denn einen Beruf nennen konnte, was sie hier taten. Es machte Spaß, es war etwas, in dem sie gut war und es brachte Geld. Das gleiche konnte man vermutlich von Helenas Profession sagen, aber irgendwie war das doch wieder etwas anderes.

Woher wir kamen (Piratenblut 3)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt