Der Liebling

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Heute

In jeder Familie kam es zu Konflikten. Ihre machte es manchmal besonders leicht, miteinander zu leben. Man konnte mal Abstand von allen einnehmen, ohne dass direkt Krach entstand. Andererseits hatte er fünf unsterbliche Jugendliche gehabt (heute sechs inklusive einer Enkelin und eines Gestaltwandlers, aber darüber wollte er jetzt nicht sinnieren), die sich keinen Deut veränderten.

Mehr als einmal hatte er vermittelt eingegriffen, manchmal hat es geholfen, ein paar Mal war es danach erst richtig eskaliert. Ihm hatte die Vaterrolle nicht von Anfang an perfekt gepasst, er hatte sie sich mit Fehltritten angeschneidert, und auch noch heute kam es vor, dass er sich falsch entschied.

„Wann hast du bitteschön das letzte Mal falsch gelegen?", fragte Edward fast schon spöttisch, „Wie oft sage ich dir das eigentlich? Du bist ein guter Dad. Der beste." Es erwärmte ihm immer das Herz, wenn der Jüngere ihn bestätigte. Er fragte nie danach, hatte nie nach Bestätigung gesucht, aber Edward tat es immer wieder.

„Falsch gelegen ist die falsche Bezeichnung", seufzte er leise, „Es gab Zeiten, da hätte ich besser handeln können."

Er war sich bewusst, dass er nicht perfekt war und auch seine Fehler machte. Manchmal war er es, der sich bei Edward mehr zum Vergeben ohne Konsequenzen hinreißen ließ, als bei dessen Geschwistern. Ein Umstand, der Edward schon so manche Probleme gebracht hatte.

1966

„Emmett, wir sollen keine Bären um die Zeit jagen." Edwards Stimme klang mehr wie ein Seufzen, als eine Feststellung.

„Ach, komm schon, Carlisle und Esme sind zwei Wochen weg. Was Carlisle nicht weiß, macht ihn nicht heiß!"

„Er wird's herausfinden", erwiderte er nur und verlangsamte seinen Schritt. Ihm lag nichts ferner, als sich an die Jagdregeln seines Schöpfers zu halten. Schließlich bestanden die nicht ohne Grund. Aber natürlich wollte Emmett die Regeln beugen und sein liebstes Tier jagen. Ihm hingen die Rehe auch schon zum Hals hinaus, aber er würde es nicht wagen, deswegen hinter Carlisles Rücken zu handeln. Eher würde er um eine Ausnahme zu bitten.

„Nur wenn du petzt, Vatersöhnchen", spottete Rosalie, „Und dann mach ich dir das Leben zur Hölle." Etwas, was er ihr aufs Wort glaubte.

„Edward hat Recht", stimmte ihm Alice leise zu, „Er wird es herausfinden und uns allen den Hals umdrehen."

„Ach komm schon. Solange unser kleiner Streber hier nichts sagt", Jaspers Ton war eindeutig spottend, „Brauchen wir uns darum doch nicht zu sorgen."

Für jemand, der erst aus dem Krieg zurückgekehrt war, hatte sein neuester Bruder eine Recht lockere Art, mit Carlisles Regeln umzugehen. Sicher hatten Rosalie und Emmett keinen guten Einfluss auf den Blonden. Carlisle war tolerant, ermöglichte ihnen Freiheiten, von denen andere nur träumen konnten. Aber die Regeln, die dieser aufgestellt hatte, befolgte man besser.

„Glaube nicht, dass ich deinen Hintern aus dem Feuer ziehe, sobald Carlisle das herausfindet", meinte Alice leise schnaubend, „Ich denke, Edward und ich jagen woanders weiter."

Damit schnappte seine Schwester seinen Unterarm und zog ihn in die entgegengesetzte Richtung weiter.

Alice wird nicht petzten, wandte sich Rosalie noch einmal mental an ihn, Ich an deiner Stelle würde auch die Füße still halten. Du weißt, dass Rache süß ist.

Kommentarlos lauschte er den mentalen Drohungen, denen er hier ausgesetzt wurde. Es gelang ihm, den stetigen Strom an Gedanken auszublenden und zu ignorieren, was seine Familie so dachte. Aber direkte Ansprachen konnte er immer noch nicht umgehen. Dafür brauchte er wohl noch einige Jahre oder Jahrzehnte an Übung.

Opfer für die FamilieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt