Geschwisterliche Pläne

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21.12.18

„Du wirkst heute recht abwesend, Carlisle. Alles in Ordnung?"

Abwesend war noch gar kein wirklicher Begriff. Er ging seinen Aufgaben wie stets konzentriert nach, aber entgegen der letzten Wochen hielt er sich bei den Kollegen zurück. Ihm war heute nicht nach Smalltalk und noch weniger nach den menschlichen Gepflogenheiten.

„Mir geht nur einiges durch den Kopf", erwiderte er wohl überlegt, „Ich bin in der Lage zu arbeiten." Wäre er immer, es sei denn, der Durst wäre zu groß. Obwohl er sich ja schon selbst bewiesen hatte, dass er auch mit sehr starken Durst keine Probleme mit Menschenblut hatte. Das musste nur Dr. Jonas Shephard, der Abteilungsleiter der hiesigen Notaufnahme, nicht wissen.

„Daran habe ich nicht gezweifelt", schmunzelnd nahm Jonas einen Schluck vom Kaffee, „Wenn du ein offenes Ohr brauchst, du findest hier zahlreiche Kollegen, die nur zu gerne zuhören. Es gibt nichts mehr, was uns überraschen könnte."

Er war sich sehr sicher, packte er aus, wäre der Mensch mehr als nur überrascht. Schockiert mindestens, bevor der ihn einweisen lassen würde. In gewisser Weise wäre es reizvoll, sich dem väterlich veranlagten Mann anzuvertrauen und eine vollkommen neutrale Meinung einzuholen. Eleazar mag ihm ein guter Freund sein, aber aufgrund Bellas Entscheidung gab es da auch kaum Hilfestellung oder Rat. Gleichzeitig bezweifelte er stark, dass ein Mensch überhaupt verstand, wie man zwei Personen in seinem Leben unabdingbar brauchen konnte.

„Das weiß ich zu schätzen, danke."

Sie waren seit etwas mehr als drei Monaten in New Jersey, er hatte sich bei einer Konferenz in der Nähe in das kleine Krankenhaus hier verliebt, und sein Alltag hatte einen schnöden, einschläfernden Rhythmus angenommen. Das interessanteste war eigentlich, der Belegschaft auf den Zahn zu fühlen und die zahlreichen internen Beziehung, sowohl romantischer oder sexueller Natur als auch tiefgehende Freundschaften, zu entschlüsseln. Bei einigen war er sich noch recht unsicher, vor allem bei seinen eigenen Kollegen der Ambulanz, und wünschte sich, Edwards Gabe für einen Moment leihen zu können. Nicht bei allen Rätseln konnte er ohne Antwort auskommen.

„Du könntest ein paar Tage frei gebrauchen", fuhr Jonas, ungeachtet seiner knappen Antwort, fort, „Über Weihnachten."

„Ich bin erst seit drei Monaten hier, ich brauche noch lange keinen Urlaub. Ich denke, die anderen freuen sich ziemlich über Weihnachtsurlaub." Ihm stand es nicht wirklich im Sinne, die Feiertage im Krankenhaus zu verbringen, aber selbst seine Frau hatte gemeint, er solle ohne schlechtes Gewissen die Schichten übernehmen und den zwei Oberärzten freie Zeit gönnen. Soweit er mitbekommen wäre das für beide die ersten freien Feiertage seit Beginn von deren Assistenzzeit. Außerdem, säße er daheim rum und drehte Däumchen, war ihm auch nicht geholfen.

Schulterzuckend lehnte Jonas sich zurück. „Du hast aber. Bist als einziger übrig. Mark, Leon und ich haben den Weihnachtsdienst immer übernommen und führen diese Tradition fort. Du kannst dich im Januar, wenn du unbedingt willst, bei der Feiertagsabfrage gerne mithilfe guter Argumente durchkämpfen und ihnen den Dienst abnehmen."

Zwangsurlaub. War das wirklich der Ernst des Mannes?

„Ich kann auch...", wollte er ansetzen, aber Jonas unterbrach ihn nur, „Wenn familiäre Probleme dich derzeit so nachdenklich stimmen, gönn' dir eben eine Auszeit. Du hast frei und damit basta."

Wundervoll. Dann käme Edward überhaupt nicht nach Hause. Sein Gefährte machte wirklich ernst mit dem Vorhaben, sich nicht bei ihm selbst blicken zu lassen. Seitdem sie damals von der Jagd zurückgekehrt waren hatte er ihn nicht mehr gesehen oder gehört. Mehr als den Geruch hatte er nicht mehr wahrgenommen und er hasste das.

Opfer für die FamilieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt