Konflikte

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Es war seltsam. Ungewohnt und falsch. Edward war, auch mit der vorläufigen Trennung von der allgemeinen Familie, immer ein fester Bestandteil seines Alltages gewesen. Wenn sie nicht telefonierten, schrieben sie miteinander und wenn das nicht funktionierte, fand sich trotzdem ein Weg. Carlisle seufzte leise, als er die Uhr betrachtete. Die letzten Wochen hatte er viel Zeit gehabt, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Zwar weigerte sich Edward ihm zu offenbaren, was Alice da überhaupt im Detail gesehen hatte, doch er war nicht blöd.

„Du wirst wieder hippelig", stellte Esme leise fest, „Willst du ihm nicht wenigstens mal schreiben?"

„Das liegt sicher nicht daran", brummte er nur und ermahnte sich, das Bein ruhig zu halten. Beim Lesen war er für gewöhnlich ruhig und konnte sich Stunden ohne Bewegung mit dem Stoff beschäftigen. Sein wippendes Bein aber zeigte nur, wie ungewohnt unruhig er war. Ihm fehlte etwas im Alltag und er wusste auch was.

„Nein, überhaupt nicht", murmelte Esme sarkastisch, „Man kann sich auch grandios selbst belügen." Er wollte nicht anfangen mit Esme zu streiten, vor allem nicht wegen solcher Banalitäten, also war es jetzt keine Option, spontan eine Schicht im Krankenhaus zu tauschen. Es war, wie er feststellte, die längste Zeit seit den Vierzigern, in der Edward und er nicht im Kontakt standen.

Und, er gönnte sich die Auswahl an Wörtern mal, es war hochgradig beschissen.

„Sei doch nicht so stur. Es war nie was falsch daran, wie gut ihr miteinander seid." Lüge, eindeutig, denn ansonsten hätte seine Frau ja nicht gestört. Zwar hatte Esme immer wieder versucht zurück zu rudern und sich ihrer eigenen Worte zu verbessern, aber die Wahrheit blieb trotzdem ungeschminkt und hart.

„Selbst wenn es nicht falsch war, hätten wir den falschen Weg bestritten. Können wir das Thema endlich ruhen lassen?" Er wollte nicht darüber nachdenken. Er vermisste Edward, eine ebenso unverblümte Wahrheit.

„Nein. Du bist unzufrieden und das kann ich nicht leiden."

„Esme!" Er liebte seine Frau, wirklich, aber manchmal konnte seine Frau einen wirklich nerven. Vor allem ihre Hartnäckigkeit. Vielleicht war er stur und wich nur selten von seinem Standpunkt ab – aber seine Frau toppte sich verdammt nochmal sehr fest in einer Sache verbeißen.

„Du leidest."Esme würde es so lange versuchen, bis er nachgab. Aber hier würde er nicht nachgeben.

„Tu ich nicht. Gut, ich vermisse unsere Gespräche, aber es ist nicht die Welt. Mein Leben hängt nicht von ihm ab." Weiter hier zu diskutieren stand nicht in seinem Sinne, aber Esme würde dabei bleiben. Diskutieren konnte er auch. Eine Diskussion mit Edward hatte sich zwanzig Jahre gezogen, bevor sie ein Ende gefunden hatte.

„So hast du nicht gewirkt, als er in Volterra war." Das war ein gemeiner Seitenhieb seiner Frau. Höchstwahrscheinlich sehr absichtlich.

„Es wäre durchaus schmerzlich gewesen, bestreite ich nicht, aber ich hätte es ohne weiteres überlebt." Immerhin stand dieses Mal keine Todesgefahr aus. Sein Junge war nur abwesend, aber quicklebendig.

„Ab..."

„Ich bin das Thema endgültig leid", unterbrach er sie nur unwirsch, klappte das Buch zu und legte es beiseite, „Und wenn du mich jetzt entschuldigst, ich gehe arbeiten." Oder jagen. Beides war eine sinnvolle Ablenkung und würde ihn davon abbringen, mehr als notwendig zu grübeln. Ihm gefiel die gesamte Situation nicht. Seine Frau wollte ihn zu etwas drängen, was sie augenscheinlich (und mittlerweile auch ausgesprochen) störte. Edward schien dem nicht so abgeneigt zu sein. Entgegen bisheriger Durststrecken zwischen ihnen beiden kamen keine SMS oder Anrufe oder persönliches Erscheinen seitens seines Jungen. Das Junge konnte er nicht aus den Gedanken streichen. Er konnte ihn einfach nicht vollkommen als Sohn betrachten. Dafür waren sie einander einfach zu nahe.

Opfer für die FamilieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt