Schon immer

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Heute

Die Sorge um ihren Mann trieb sie dazu, gegen Mittag nach ihm zu suchen. Zwar war sich Esme sicher, dass Carlisle nicht alleine den Tag verbrachte, musste sich aber dessen vergewissern. Jahrestage, die einen gewissen bitteren Beigeschmack hatten, sollte man nicht alleine verbringen. Vor allem nicht, wenn es um den ersten Gefährten ging.

Die beiden hatten eine Beziehung, die sie bis heute nicht zu definieren wusste. Schon von Anfang an war da eine Ebene gewesen, die es schwierig machte, die Gefühle zueinander festzusetzen. Carlisle nicht nur Edwards Vater und Edward nicht nur Carlisles Gefährte.

Sie hörte die beiden Männer reden, von ihrem Standort aus nur ein Summen der Stimmen, aber keine Worte. Von ihrer Position aus, erhöht durch einen Berg, konnte sie die beiden sehen.

Ein intimer Augenblick offenbarte sich ihr. Sicher war es nicht nur ein Augenblick, sondern der Dauerzustand des Tages. Etwas, dass sich vor ihrer Augen niemals abspielen würde, und dessen sie doch oft ungewollter Zeuge geworden war.

1924

Ungeachtet aller neuen Dinge, fand Esme, hatte sie Glück gehabt. Ein Mann, der sie mit sanften Gesten und ehrlicher Seele umworben und gewonnen hatte. Ein Sohn, der sie mehr oder weniger machen ließ, wie ihr Herz es begehrte. Eine Freiheit, wie sie es nie erlebt hatte.

Die Erinnerungen an den Schmerz ihres menschlichen Gatten waren noch existent, genauso bedauerte sie den Tod ihres eigenen Kindes, aber sie hatte was Schönes dafür bekommen. Die bedauerlichen Nebeneffekte, die das Vampirdasein brachte, ließen sich ertragen. Vor allem mit einem so wundervollen Mann.

„Mach langsam", durchbrach die Stimme ihres Mannes durch die Wälder, „Nicht schummeln."

Sie konnte nicht anders, als Lächeln. Edward brachte etwas in Carlisle hervor, was sie dem Mann niemals zugetraut hätte. Eine überraschend verspielte Seite, von Neckereien über Wettkämpfe bis hin zu kleineren Scherzen, die sich aber allein dem jungen Mann gegenüber zeigte. So ausgelassen erlebte sie beide nur selten.

Aber das, was sie jetzt erblickte, war nicht nur Ausgelassenheit. Sie wusste nicht, ob Edward sie bemerkt hatte, schloss es aber aus. Sonst würden die beiden sich aus der engen Umarmung trennen oder der Jüngere sich zumindest wehren.

Sie kam sich vor, als würde sie einen intimen Moment beobachten, der ihr gar nicht erst zugetragen werden sollte. Carlisle hatte Edward von hinten fest umschlungen, die Stirn an dessen Hinterkopf gelehnt. Edward selbst hielt sich an den Unterarmen fest, ein zufriedenes Lächeln auf dem Gesicht und mit geschlossenen Augen.

Zwei Liebende, schoss es ihr ungewollt durch den Kopf, ein Moment zum Genießen.

Waren die beiden das? Liebende?

Nein, sie war sich sicher, es war nicht so. Dafür waren beide zu offen. Trotzdem war der Augenblick etwas, was sie nachdenklich stimmte. Beide waren ziemlich gut miteinander, abgestimmt durch die Jahre in Zweisamkeit, wie sie es noch bei keinem erlebt hatte. Sie harmonierten wunderbar.

Aus Sekunden wurden Minuten. Keiner von ihnen hatte sich mehr gerührt. Sie fürchtete, bewege sie sich, könnten die Männer sie bemerken und sich vielleicht genötigt fühlen, die innige Umarmung zu unterbrechen.

Keine Liebenden, aber irgendwas in der Art.

Heute

Sie wusste, hätte Edward sie bemerkt, hätten die beiden ihre innige Position bereits gelöst. So lehnte sich nur gegen einen Baum und nahm sich, wie jedes Mal, die Zeit, die beiden zu betrachten.

Opfer für die FamilieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt