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Es war beinahe schon Nachmittag, als der Zug endlich hielt und ich nach draußen stolperte. Ob Stegis Pause schon zuende war? Hoffentlich nicht, heute Abend ging meine letzte Fahrt zurück und die nächste Gelegenheit war erst morgen wieder.

Ach was, dann machte ich halt zwei Tage frei! Seit wann ließ ich mich denn verdammt nochmal so verklemmt von irgendwelchen Vorgaben beeinflussen? Andere Studenten machten wöchentlich blau und ich Idiot ging jeden einzelnen Tag gegen besseres Gewissen wieder hin! Das konnte ja wohl nicht wahr sein!

Egal, genug unfreundliche Gedanken verschwendet, ich musste dringend zu Stegi! Also folgte ich wieder einmal einer Google Maps Route, die mich angeblich in knapp zehn Minuten zu der Firma bringen sollte, und stand schließlich vor den Toren zum Gelände. Tatsächlich, da standen noch ein paar rauchende Männer vor den Eingangstüren, einige mit Kitteln, andere mit Jacken an, und unterhielten sich. Als ich mich reckte und zu ihnen spähte, glaubte ich auch, unter ihnen einen kleineren, blonden Mitarbeiter zu entdecken. Stegi!

Ich musste mich sogar ausweisen, als ich auf den Vorhof wollte und das obwohl ich sagte, dass ich nur schnell jemanden besuchen wollte. Vorschriften waren Vorschriften. Ich wartete ungeduldig und behielt immer die Männer im Blick. Einer hatte scheinbar gerade einen Witz erzählt, denn mehrstimmiges Lachen zog zu mir hinüber und ich bildete mir ein, Stegis Glöckchenlache aus den ganzen rauen Stimmen eindeutig heraushören zu können! Dann traten die meisten von ihnen bereits ihre Kippen aus und ihr lockerer Kreis drohte sich aufzulösen, und noch immer stand ich in der Registrierung und kam nicht weiter! Scheiße nein! Geh noch nicht wieder rein, Stegi! Warte doch kurz! Und tatsächlich zückte er nochmal sein Handy, anstatt seinen Kollegen zu folgen. Meine Chance!

Eigentlich hatte ich mir den ganzen Weg über vorgestellt, wie lustig es wäre, mich an meinen Freund heranzuschleichen und von hinten die Hände auf die Augen zu legen. Wie lang er dann wohl gebraucht hätte um zu erraten, wer ich war? Drei Versuche? Fünf Versuche? Oder hätte er es sofort gewusst? Doch jetzt musste ich mich beeilen, keine Zeit für solche Spielchen. Wenn Stegi sich umentschied und wieder an seine Arbeit ging, konnte ich nochmal fünf Stunden darauf warten, dass er wiederkam! Während ich auf ihn zurannte, drehte er mir den Rücken zu, schaute nach oben, steckte sein Handy weg und verharrte dann in seiner Position. Mein Einsatz!

"Stegi!", rief ich ihn von zehn Meter Entfernung und alles, was er noch tun konnte war, sich umzudrehen und völlig überfordert seine Arme auszustrecken, bevor ich ihn mit meinem Tempo fast überrollte, ihn in meine Arme schloss und so fest zudrückte, als wolle ich mit ihm verschmelzen! "Timmiii!", kreischte er vor Begeisterung und begann am ganzen Körper vor Freude zu beben. Endlich, endlich hatten wir uns wieder! Nach so langer Zeit!

"Wie kommst du denn hier her, Großer? Ich-, ...ich dachte, du hast Uni!", fragte Stegi mit heftig schwankender Stimme und ich spürte, dass er zu weinen angefangen hatte. "Hey, nicht doch Dino! Nicht weinen, ich bin doch extra her gekommen, um dich glücklich zu sehen!"

"Ich bin glücklich, du Blödmann! Mehr als nur glücklich! I-ich kanns nur noch n-nicht wirklich glauben...!" Seine Antwort brachte mich zum Schmunzeln. Obwohl ich selbst nicht oft zu ähnlichen Gefühlsausbrüchen neigte, stiegen mir jetzt auch Freudentränen in meine Augen. Aber ich blinzelte sie beiseite, strich meinem besten Freund immer wieder über Haare und Rücken und löste ihn dann vorsichtig ein Stück von mir, damit ich ihn anschauen konnte. Da stand er vor mir, Rotz und Wasser heulend, aber mit einem so breiten, fröhlichen Grinsen auf den Lippen, dass es beinahe unecht gewirkt hätte. Oh wie hatte ich ihn nur so lange alleine lassen können?!

Als wir einander wieder in die Arme schlossen, spürte ich mein Herz gegen seinen Körper schlagen. Aufgeregt, viel zu hektisch und kräftig, als wäre ich eben einen Marathon gelaufen, und ohne wirklich nachzudenken gab ich Stegi einfach einen Kuss auf seinen Scheitel. Er lachte, als er das merkte, aber sagte nichts dagegen, erst als ich es völlig überwältigt noch einmal tat: "Hmm, Timmi! Du bist doch nicht meine Mom! So kenne ich dich ja gar nicht!" Und obwohl er das im Spaß sagte, wachte ich dadurch wieder auf und ließ es beschämt bleiben. Er hatte ja recht, so herzen und busseln sollte ich ihn als Kumpel wirklich nicht. Peinlich... Doch als Stegi plötzlich meinte, er müsse jetzt dringend in die Firma zurück und wir uns voneinander lösen mussten, kehrte das Gefühl mit voller Kraft zurück. Ein unbeschreibliches Verlangen. Eines, das mich zu hetzen schien und doch gleichzeitig beruhigte. Ein Gefühl von äußerster Dringlichkeit und dem Versprechen, dass es mir danach besser gehen würde. Viel besser, tausend mal besser als jetzt! Dass es mir einen Rausch geben würde, der den von sämtlichen Drogen und Joints um Länderweiten übertreffen würde. Ich... ich wollte meinen Freund küssen... Jetzt noch, bevor er ging. Nicht mehr nur auf den Kopf, nein, das reichte nicht, niemals! Ich wollte ihn auf den Mund küssen... Wollte, dass er es erwiderte und mir sagte, dass wir jetzt nie wieder voneinander getrennt leben mussten. War... war das... etwa...?

"Tim? Erde an Timbo? Hey Großer, du musst mich jetzt wirklich loslassen, okay? Auch wenns schwerfällt!"

Seine Worte holten mich mit der Kraft einer Ohrfeige zurück in die Realität und verwirrt blinzelte ich. Mein Blick war auf Stegis Lippen gerichtet, mein Kopf in freudiger Erwartung bereits unmerklich gesenkt gewesen. Hochnotpeinlich ließ ich ihn los und stotterte irgendetwas sinnloses, unzusammenhängendes zusammen, um der Situation entfliehen zu können. Aber wie erwartet machte das Stegi noch skeptischer. "Ist alles okay bei dir? Du guckst so seltsam", stellte er bedrückt fest und ich schüttelte schnell den Kopf. "A-ach Quark, es ist alles okay... alles gut... I-ich muss nur auch langsam los, mein Z-zug fährt bald. Dann... tschüss Dino. Bis Weihnachten..."

Ich war schon ein paar Schritte gegangen, als Stegi mir nachrief: "Wenn es dir nicht gut geht oder dir etwas auf dem Herzen liegt, dann schreib mir bitte! Du kannst mir immer alles anvertrauen!"

Nein, konnte ich nicht. Nicht das. Ich würde dadurch bloß alles zerstören, was zwischen uns jemals gewesen war oder in Zukunft noch sein würde! Ich konnte jetzt nicht so egoistisch sein und ihm davon erzählen. Stattdessen musste ich genauso egoistisch bleiben und meine Gefühle für mich behalten. "Danke Stegi, ich werde drauf zurückkommen. Halt die Ohren steif!"

Garfield - Zwei Jungs, ein Kater und ein verworrenes Schicksal (#Stexpert)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt