Die Nekos!

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Die letzten Sekunden auf dem Zähler tickten wie in Zeitlupe herunter und ich konnte es einfach nicht übers Herz bringen, den großen, blinkenden Knopf zu drücken. I-ich konnte es nicht, ich konnte, k-konnte es einfach nicht... Stegi hatte Recht, ich hatte ihm ein Versprechen gegeben und es jetzt zu brechen, kam einem Verrat gleich. Er hatte es nicht verdient, jetzt wie ein ungeliebtes Spielzeug gegen ein anderes ausgetauscht und weggeworfen zu werden! Er war mir ein so guter Freund gewesen und obwohl streng genommen nur ein knapper Monat vergangen war, seitdem ich ihn kennengelernt hatte, liebte ich ihn doch auch von ganzen Herzen. Vielleicht konnten wir uns niemals in der Öffentlichkeit zusammen zeigen und niemals wirklich miteinander schlafen, aber das war schon in Ordnung. Ich liebte ihn auch so genug, um diese Defizite verkraften zu können. Ein Teil von Stegi würde in ihm auch für immer weiterleben und außerdem würde ich mit dieser Entscheidung allen seinen Klonen das Leben retten! Leo hatte zwar gemeint, dass das etwas schlechtes war, doch wie konnte er sich da so sicher sein? Vielleicht war es auch meine Aufgabe, sie alle zu retten und... dafür ein gewaltiges Opfer zu bringen... Tut mir leid, Stegi, dass ich dich deswegen jetzt aufgeben muss...

Langsam zog ich meine Hand zurück, während ich voller Angst den Timer beobachtete. Drei... Zwei... Eins... Null.

Mein Freund schluchzte erleichtert auf, küsste mich überwältigt auf die Wange und schlang seine Beine und Arme um mich. Ich erwiderte ihm und schloss meine Augen. Zu groß war meine Angst davor, was als nächstes passieren konnte.

Ein dumpfes Geräusch ließ mich zusammenzucken. Als ich mich dann langsam und innerlich zitternd umdrehte, sah ich, woher es gekommen war. Stegi war aus seinem Tiefschlaf aufgewacht. Er starrte mich verzweifelt an, hämmerte von innen gegen das Glas und schien irgendwas zu rufen, wovon ich jedoch nichts hörte. Ich sah nur die Ströme aus kleinen Luftbläschen aus seinem Mund nach oben treiben. Er quälte sich ganz offenbar, doch ich konnte nichts tun, um ihm zu helfen. Dafür war die Barriere zwischen uns viel zu dick. Eine gefühlt Ewigkeiten andauernde Minute später griff Stegi sich schließlich unter Schmerzen an den Hals, als ihm die Atemluft ausging. Ein letztes Mal krümmte er sich zusammen, dann schlossen sich seine Augen, seine Hände wurden schlaff und kraftlos und sein Körper trieb nach oben. Danach geschah... absolut gar nichts mehr... Ich hatte ihn umgebracht... Meinen besten Freund!

"Wieso Tim...? Wieso hast du nicht auf mich gehört?!", keuchte Leo entsetzt, ehe er die Verbindung abbrach und mich mit dem Neko und dem Toten im Glasbehälter zurückließ. Ich schniefte, während mein Herz brach und dann die erwarteten Tränen endlich kamen. Wieso? Wieso...?

"Danke Timmi! Ich weiß, dass das schwer war, aber Dankeschön, dass du dich so entschieden hast! Ich werde alles für dich tun, damit es dir bald wieder gut geht!", murmelte mein Freund sanft und küsste mich wieder. Es löste nichts mehr in mir aus. Rein gar nichts. "Lass uns gehen, wir können hier nichts mehr tun!"

Stur folgte ich seiner Bitte, allerdings nicht, ohne mich davor noch mit einem leicht rostigen Stahlrohr zu bewaffnen, das ich beim Verlassen hinter der Tür erspähte. Zum Zerbrechen der Glasbarriere um Stegi hätte es niemals ausgereicht, aber gegen die Gefängnisse von seinen Klonen sollte es sich behaupten können. Durch meine Trauer bahnte sich nämlich langsam auch ein anderes Gefühl an, das mir wohl bekannt vorkam. Wut! Ich wollte meine Hilflosigkeit loswerden und wenn ich dabei niemanden verletzte, war das umso besser! Ich würde die Inkubatoren zu Staub zermalmen wenn es sein musste und wenn das nicht half, warteten da draußen noch zehn Männer, die an meiner Entscheidung von eben Schuld waren und von keinen noch so kleinen Gewissensbissen geplagt wurden! Solange ich nur den ganzen Schmerz aus meinem Herzen verbannen konnte, war mir auch das Recht!

Die jungen Stegi-Klone schauten besorgt, als ich tränenüberströmt zu ihnen zurückkehrte, aber alle reagierten rechtzeitig und schützten ihre Köpfe, als ich ausholte und das Rohr mit voller Kraft gegen ihren Käfig schwang. Es splitterte und krachte laut, doch das Resultat war zufriedenstellend. Ein annähernd ovales, mit scharfen Kanten umrahmtes Loch klaffte offen unter meiner Waffe, groß genug, um alle Insassen nach draußen heben zu können. Einige kamen bereitwillig zu mir und kämpften fast noch darum, wer als erster gerettet werden durfte, andere verkrochen sich in die hintersten Ecken und brauchten erst noch die Ermutigung von mir, Stegi und den anderen, bevor sie mir genug vertrauten und sich in Sicherheit bringen ließen. Das selbe wiederholte ich noch bei den vierzehn übrigen Inkubatoren, während ich mitzählte. Am Ende hatte ich keine Energie mehr übrig, meine Wut war verpufft, meine Hände mit Kratzern und Bluttropfen übersät und ich war auf dreiundachtzig gekommen. Dreiundachtzig miauende, schnurrende und klagende Stegi-Katzen-Hybriden in allen erdenklichen Fellfarben und -formen. Ohne einen Kommentar zog ich meine Jacke aus, hob die kleinsten von ihnen in meine Taschen, wickelte ein paar der größeren in die Kapuze ein und nahm so viele wie nur möglich an der Hand, bevor ich sie nach draußen führte. Der Rest folgte mir im Schlepptau. Leo hatte die Türen für uns geöffnet, aber von ihm sahen wir nie wieder etwas...


Stegi war die Woche über zu Tobi und Rafi gefahren, nachdem sie gehört hatten, was ich durchgemacht hatte. Jeder wusste nun, was in den Laboren von PharmaTico passiert war. Heute hatte es in der Zeitung gestanden, nachdem wir zuvor noch die restlichen Klone aus der Sklaverei gerettet hatten. Mithilfe der Polizei und einem reuevollen Mitarbeiter der geheimen Abteile waren wir an eine Liste mit allen Kunden und ihren Adressen gekommen und sobald die vorwiegend männlichen Käufer die Tür geöffnet und die Polizisten erblickt hatten, war ihr Geständnis quasi schon von ganz alleine gekommen. Und als die misshandelten, verletzten und gebrochenen Stegis mich sahen, wie ich in den fremden Häusern nach ihnen suchte und ihren wahren Namen rief, war alles zu spät gewesen. Sie schienen so unbeschreiblich glücklich, mich endlich wiederzusehen, doch gleichzeitig bemerkte ich auch, was Leo über sie gesagt hatte. Viele würden insgeheim vielleicht lieber sterben, als normal weiterleben zu müssen. Ihnen war so viel Gewalt widerfahren, dass sie jede Nacht von Alpträumen gequält wurden und nicht wenige wiesen unvollständig oder falsch verheilte Knochenbrüche und Verletzungen auf, bei denen sich mir der Magen umzudrehen drohte. Und trotzdem musste ich mir einreden, dass ich das richtige getan hatte. Die jungen Stegis waren allesamt gesund und munter und obwohl einige keine eigene Persönlichkeit und Identität besaßen, waren sie dennoch wohlauf und wurden von Tag zu Tag lebensfroher.

Momentan befanden sie sich im Münchner Tierkindergarten, in dem Garfield auch gewesen war und wo sie vorerst versorgt wurden und ich sie wann immer ich wollte besuchen konnte. Sobald ich den Prozess gegen PharmaTico gewann, würde ich etwas in die Wege leiten, dass sie für immer dort bleiben konnten oder in wenigen, besonderen Fällen und in ihrem Einverständnis an nette Familien gegeben werden durften. Ich konnte sie nicht alle behalten und mich um sie kümmern, das ging einfach nicht. So gerne ich es später vielleicht auch gewollt hätte.

Zurzeit wollte ich aber von dem ganzen Trubel nichts wissen. Alle respektierten das auch. Ich hatte meinen besten Freund verloren und das hatte eine Wunde in mir hinterlassen, die nicht von einem Tag auf den anderen heilen konnte. Der einzige, der diese Woche die Erlaubnis hatte, noch bei mir zu sein, war Garfield. Ich hatte ihn die letzten Tage stark vernachlässigt und mich um ihn zu kümmern, linderte die Schmerzen. Er erinnerte mich seltsamerweise nicht an die schreckliche Entscheidung, die ich hatte treffen müssen. War es denn wirklich richtig gewesen? Ich konnte es nicht mit Sicherheit sagen. Aber ich würde mit meiner Antwort zu leben lernen müssen. Egal wie schwer es mir fallen würde. Mein Freund verließ sich auf mich und ich wollte meine Laune und meine Zweifel nicht an ihm auslassen müssen. Wir würden glücklich zusammen sein! Eines Tages, wenn die Schmerzen vergessen waren und das Schicksal unseren Fall zu den Akten legte.

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Auch wenn es so klingt, soll das hier nicht das falsche oder schlechte Ende sein. Es gibt kein richtig und kein falsch in dieser Entscheidung. Vielleicht wäre Tim in dieser Zukunft nicht ganz so glücklich geworden, aber sein Leben wäre trotzdem weitergegangen, mit seiner großen Liebe an seiner Seite :)

Vielen Dank fürs Lesen und ich hoffe, ihr hattet Spaß, konntet euch gut hineinversetzen und ich konnte euch mit den Plottwists überraschen! Wir sehen uns bestimmt bald wieder in der nächsten Geschichte!

Garfield - Zwei Jungs, ein Kater und ein verworrenes Schicksal (#Stexpert)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt