16.

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Dementsprechend gerädert war ich auch am Vormittag vom Heiligabend, als wir alle dick eingemummelt loszogen, um draußen im Schnee zu spielen. Mit schweren Beinen, Armen und Augen setzte ich mich an den Rand auf eine Parkbank, mied dabei ganz bewusst die, auf der Lena schon wild mit ihrem Freund knutschte, und rutschte stattdessen zu meinen Eltern. Stolz schauten sie mich an: "Dann erzähl doch mal ein wenig, wie ist die Uni so? Hast du nette Mitbewohner und Freunde in München gefunden? Du lässt so selten von dir hören, da machen wir uns schon ab und zu Sorgen, ob du das auch alles so alleine schaffst!"

Ich winkte ab. "Ihr braucht euch keine Sorgen zu machen, wirklich nicht! Ich bin doch mittlerweile Erwachsen, da schaffe ich das schon!"

"Aber du wirst trotzdem auch immer unser Sohn bleiben und wenn du bei irgendwas Probleme hast, dann sag uns bitte Bescheid! Wir helfen dir immer weiter, so gut wir können, Tim!", meinte mein Dad und glücklich nickte ich. Das war nett von ihnen! "Dankeschön! ...Also, da wäre tatsächlich was. Ich hatte ja gesagt, dass Stegi nichts mehr von sich hören lässt, gestern am Telefon", erinnerte ich sie, entschlossen, ihre Hilfe in Anspruch nehmen zu wollen, mich ihnen als den ersten Mitmenschen zu outen und sie um ihre Meinung zu fragen, was sie glaubten, warum Stegi verschwunden sein könnte. Mama und Dad warteten gespannt, beide mit einem ermutigenden Lächeln. Also gut! "D-die Sache ist, ich glaube, ich habe mich über das letzte halbe Jahr in ihn verliebt! Und ich weiß nicht, ob sein Verschwinden an mir liegt, weil ich es ihm sagen wollte. Und ich mach mir deswegen fast jeden Tag furchtbare Gedanken, ob es ihm gut geht und wo er wohl gerade ist!"

Mein Dad warf Mama einen bedeutsamen Blick zu, den ich etwas verwirrt verfolgte. Sag bloß, er hatte vermutet, dass ich anders gepolt sein könnte als die meisten Leute! Doch das schien es tatsächlich zu sein, denn auch Ma wirkte nicht wirklich überrascht. "Ach Tim, dass Stegi verschwunden ist, ist nicht deine Schuld! Du hast ihn ja nicht dazu gezwungen oder gedrängt, er hat das sicherlich aus eigenen Stücken so gewollt! Das ist schade, dass daran eure Freundschaft gelitten hat, aber wenn du so empfindest, wird Stegi es vielleicht eines Tages verstehen oder du wirst jemanden finden, für den du genauso fühlen kannst! Wie hat mein Vater damals immer gesagt?, für jeden Topf gibt es einen passenden Deckel! Und wenn du nochmal die Chance dazu bekommen solltest, dann klär das mit deinem Freund! Aber steh dann auch zu dir und leugne deine Worte nicht, nur weil es so angenehmer sein könnte. Wenn du Stegi wirklich wichtig bist und ihm etwas bedeutest, dann wird er es verstehen, da bin ich mir sicher!"

"Meine Worte", hängte mein Dad schief lächelnd an und umarmte mich dann tröstend, als ich mehrmals stark nickte, um den Kloß in meinem Hals niederzukämpfen. Es tat gut, sich bei jemandem ausgesprochen zu haben, der mit mehr Erfahrung herhalten konnte als Tobi oder Chrissy. Ich schätzte ihre Hilfe zwar auch, aber meine Eltern hatten es tatsächlich geschafft, dass ich mich nicht mehr ganz so schuldig fühlte! Doch ob ich deswegen ganz ohne meinen Dino weiterleben konnte wie bisher, wusste ich noch nicht.

Ein lautes Kreischen ließ mich aufschrecken, aber es war nur Lena, die einen Schneeball von Max gegen ihre Mütze bekommen hatte. Während sie jetzt schreiend und zeternd ihren rotzig frechen Bruder im Kreis jagte, mussten sich Nick, Emily und Jean ein Lachen verkneifen. Schien als hätte jeder seinen Spaß! Die weiße Decke war völlig niedergestrampelt und mit Fußstapfen übersät, Joni und Christopher hatten Schneeengel gemacht und bauten gerade zusammen mit Josi und Marie einen riesigen Schneemann. Das war die schöne Seite daran, eine so große Familie zu haben wie ich!

Als wir etwa eine Stunde später alle vollkommen ausgelaugt waren, standen auf der Spielwiese sechs Schneemänner, bei denen ich zum Schluss mitgeholfen hatte, um Dekorationen wie die Augen, Mund und Jackenknöpfe zu suchen und anzubringen. Möhren hatten wir leider keine mitgebracht, also nahmen wir notdürftig Stöckchen als Nasen. Ich war stolz auf unser gemeinsames Werk. Eine schöne Familie war es geworden, zwei Eltern, zwei große Geschwister und zwei kleine Geschwister. Für mehr fehlten uns jetzt aber die Kraft und der Schnee.

Ich unterhielt mich mit Josi auf dem Rückweg. Für sie würde es bald ernst werden mit den Abschlussprüfungen an der Realschule, dann wollte sie aber als nächstes Familienmitglied meinem Vorbild folgen und ebenfalls ein Abitur nachholen. Ich wünschte ihr dafür bereits jetzt alles Gute. Sie grinste: "Kannst du mir Tipps geben, was ich dann machen soll, wenns soweit ist?"

"Stolper am Bahnhof am besten in jemanden, den du sympathisch findest!", lachte ich, "so hab ich meinen besten Freund kennengelernt! Und wenn das nicht klappt, solltest du erstmal drüber nachdenken, ob du die Strecke nicht doch lieber jeden Tag frühs und abends fahren würdest. Das ist zwar stressig, aber besser, als dort mit Mitbewohnern zu leben, die du nicht ausstehen kannst. Du hast ja dann noch die elfte und zwölfte Klasse vor dir, in der du dich für eine WG mit Freunden entscheiden könntest!" Josi nickte mit leuchtenden Augen. "Heißt das, du hast auch in München Freunde gefunden?", fragte sie mich weiter aus. Ich versuchte zu überspielen, welchen Stich in mein Herz dieses Gespräch mir zu versetzen drohte. "Ja klar, einige! Chrissy zum Beispiel, meine Mitbewohnerin." Ehemalige Mitbewohnerin, aber ich verkniff mir diesen Kommentar. Die Augen des Mädchens wurden noch größer. "Ist Chrissy deine Freundin?"

"Nein, sie hat schon jemand anderen, den sie lieber mag." Autsch. Nicht weil ich das zugeben musste, sondern weil meine wahre Liebe meine Gefühle auch nicht erwidert hatte. Nein, nicht jetzt wieder an ihn denken! Auch wenn alles andere schwer fiel! Josi schien es jedenfalls an Infos zu reichen, sie ließ sich stattdessen zu Marie zurückfallen und bald darauf hörte ich sie auch schon wieder miteinander streiten.

Ich fasste einen Entschluss. Heute wollte ich Stegi ein letztes Mal schreiben und darauf hoffen, dass er es sah, danach würde ich mich auf meine eigene Zukunft konzentrieren, damit sie nicht so endete, wie ich diese Woche.

Garfield - Zwei Jungs, ein Kater und ein verworrenes Schicksal (#Stexpert)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt