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Je länger ich nach meinem Gespräch mit Mike darüber nachdachte, desto entschlossener war ich, mein geblufftes Vorhaben tatsächlich umzusetzen. Für mich deutete jedenfalls einiges darauf hin, dass ich mit meiner Theorie recht hatte! Stegi war wie ich ihn kennengelernt hatte kein Mensch, der so einen Text schrieb und dann überstürzt alles zurückließ. Die Zugfahrt nach Essen damals, das war etwas anderes gewesen, da waren seine schulischen Leistungen und seine Gesundheit durch den Umgang seines Vaters in Gefahr gewesen! Aber jetzt ging es um seine Zukunft, auf die er so vehement hingearbeitet hatte! Mein Sonnenschein würde nicht abhauen, so etwas dummes würde er niemals tun!

Zu doof nur, dass sein Mitbewohner den Zettel weggeworfen hatte! Das wäre der wichtigste Hinweis gewesen! Ich kannte Stegis Handschrift und hätte sofort gesehen, ob wirklich er den Zettel geschrieben hatte oder jemand Fremdes, der nur vorgab, er zu sein! Davon war ich überzeugt! Und ich ärgerte mich, dass ich nicht schon bei seinem Praktikumsplatz gefragt hatte, ob ich mir das Kündigungsschreiben ansehen könnte. Ob ich es ausgehändigt bekommen hätte, war eine andere Frage, aber es ging hier immerhin um ein Menschenleben, wenn meine Befürchtungen richtig waren!

Einen Versuch war das ganze wert. Und wenn die Beamten mir nicht glaubten, konnte ich immer noch auf eine Vermisstenanzeige umschwenken. Denn ich würde alles tun und sämtliche Berge versetzen, um Stegi wiederzubekommen, ich würde so lange suchen, wie es nötig war, bis ich ihn wiederfand! Ich wollte unbedingt wissen, was passiert war!

Durch ein wenig Herumgefrage fand ich die Polizeistation schließlich und wurde sofort von dem Mann am Empfang unter die Lupe genommen. Sein Blick scannte mich zackig, dann wendete er sich wieder seinem Rechner zu: "Wie können wir Ihnen helfen?"

"Es geht um meinen Fr-, um meinen Kumpel, ich möchte ihn als vermisst melden", erklärte ich. Entführt wollte ich nicht gleich zu Beginn sagen, sonst hätte der Typ mich sicher noch ausgelacht! Ohne von der Mattscheibe hochzuschauen, hob der Polizist eine Augenbraue. "Ach, vermisst? Dann erzählen Sie bitte mal, wie Sie zu dieser Annahme kommen!"

Seine gelassene, sogar gelangweilte Art machte mich sauer. "Das ist nicht nur eine Annahme", versuchte ich meine Worte zu unterstreichen, "das ist ein Fakt! Er geht seit gestern nicht mehr an sein Handy und hat es sogar ausgeschalten, nachdem ich ihn angerufen hab. Das heißt, entweder er oder jemand, der ihn vielleicht sogar gekidnappt hat! Bei seiner Ausbildungsstelle hat er angeblich auch gekündigt, obwohl alles in Ordnung war und er hat gestern Abend auch noch Hals über Kopf seine Wohnung verlassen und ist weg! Sein Mitbewohner hat einen Zettel von ihm gefunden und weiß auch nicht, wo er hin sein könnte!"

Bei der Stelle mit dem Abschiedsbrief wurde der Mann endlich hellhörig. "Ah ja. Und wo befindet sich der Zettel nun?"

"Der Mitbewohner hat ihn weggeworfen, weil er nicht wusste, dass er wichtig sein könnte...", murmelte ich. Gerade wollte ich ihm noch sagen, dass Stegis Handschrift hier der entscheidende Beweis gewesen wäre, aber der Beamte hob eine Hand und ließ mich so verwirrt innehalten. "Zuerst einmal bräuchte ich noch die üblichen Angaben von Ihnen und der betroffenen Person! Also, Sie sind?"

"Tim Bau." Endlich machte er sich Notizen! "Wohnhaft in?"

"München. Hören Sie, wenn wir diesen Zettel finden-" Wieder wurde ich unterbrochen. Jetzt sah der Polizist nicht mehr gelangweilt, sondern verdrossen aus. "Nein, Sie hören mir zu. Wir kriegen solche Meldungen ständig, fast täglich mittlerweile, und nach nicht einmal achtundvierzig Stunden haben sich mehr als neun von zehn Fällen bereits geklärt! Seien es Wichtigtuer, Spinner, überbesorgte Eltern oder Freunde", er legte eine bedeutungsschwere Pause ein, "oder sogar Tierbesitzer! Würden wir jeder angeblichen Vermisstenanzeige nachkommen, hätten wir keine andere Beschäftigung und mehr Überstunden, als wir je im Leben abarbeiten könnten. Wir können jetzt gerne die Personalien aufnehmen, aber den Verhalt überprüfen wir erst mit ausreichender Beweislage oder in frühestens zwei Monaten ohne jeglichen möglichen Kontakt zu ihrem Bekannten."

Ich war entsetzt. "Aber... es geht dabei vielleicht um ein Menschenleben!", presste ich durch die Wut und die Verzweiflung in meinem Inneren hervor. Das Lächeln, das mir der Polizist daraufhin schenkte, hätte mitleidig wirken können, hätte es für mich nicht wie eine hässliche Grimasse ausgesehen. "Geht es das nicht bei jedem von euch, der mit sowas hier her kommt? Wie alt sind Sie? Zwanzig? Fünfundzwanzig? Studieren Sie noch fleißig? Dann lassen Sie mich Ihnen einen Tipp geben! Kommen Sie im richtigen Leben an, da kann es passieren, dass andere Menschen mal nicht stündlich auf ihr Handy gucken oder ihre Pläne umwerfen! Ihr Kumpel studiert auch noch? Ausbildungsstelle hatten Sie gesagt, nicht? Hier kommt meine Vermutung: Er wurde gar nicht entführt, sondern hat dem Druck der Arbeit einfach nicht mehr standgehalten. Das passiert und das ist auch nicht verwerflich! In einer Woche wird er von seiner Auszeit zurückkommen und es woanders nochmal probieren, Sie werden schon sehen! Also, wollen wir jetzt noch weiter die Personalien aufnehmen, oder lassen wir es sein?"

Sprachlos starrte ich den Mann an, der sich jetzt zufrieden in seinen Sessel zurücklehnte. Ich wollte ihm etwas erwidern, aber mein Mund war vor lauter Empörung ausgetrocknet und mein Verstand schien nur noch bruchstückhaft zu arbeiten. Stattdessen drehte ich mich einfach um, ging geradewegs wieder nach draußen und stapfte davon. Das konnte doch einfach nicht wahr sein! Begriff denn niemand, was für Angst man um einen geliebten Menschen haben konnte?! War die ganze Welt nur über über Nacht vollkommen verblödet? Mitten im Laufen hielt ich plötzlich an, blickte in eine der unzähligen schmalen Seitengassen, ging ein paar Schritte hinein und stieß dann ohne weiter nachzudenken meine Faust mit voller Kraft vor die schmutzig sandfarbene Hausfassade. Der dumpfe Schmerz tat gut...! Also tat ich es gleich nochmal! Und dann nochmal, weil es immer noch in mir brodelte. Zischend betrachtete ich dann meine Hand. Blutig, die Haut durch die raue Wand an den Knöcheln aufgesprungen oder zerkratzt. Egal, dann würden jetzt meine Schuhe dran glauben! Noch fünf- oder sechsmal ließ ich meinen Frust so an dem Putz aus und sah zufrieden, dass auch er durch meinen Gefühlsausbruch gelitten hatte. Ein kleines Stück war herausgebröckelt! Doch zeitgleich mit dieser Erkenntnis drang auch das Pochen und Zwiebeln meiner Hand vollends zu mir durch. Argh, scheiße! Hastig fischte ich ein Taschentuch aus meiner Jacke, versuchte das gröbste aufzutupfen und wickelte es am Ende aber resigniert um die Wunden. Wenn sich das nicht bis nach Hause entzündete, hatte ich echt unendliches Glück!

Garfield - Zwei Jungs, ein Kater und ein verworrenes Schicksal (#Stexpert)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt