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Die Gedanken trieben mich beinahe in den Wahnsinn und am Abend wälzte ich mich ruhelos im Bett hin und her. Ich fand so einfach keinen Schlaf, weil mir Chrissys Worte nicht aus dem Kopf gehen wollten. 'Wenn man glaubt, ohne diese bestimmte Person nicht mehr leben zu können.' Das stimmte, aber das war schon fast seit dem Tag so gewesen, an dem ich Stegi kennengelernt hatte. Und das musste doch nicht zwingend ein Indiz für Liebe oder Liebeskummer sein! Eine tiefe, echte Freundschaft erschuf doch ein ähnliches Empfinden!

'Wenn man Gefühle hat, die aber nicht oder nicht mehr erwidert werden.' Oh ja, ich hatte Gefühle für meinen Freund, aber doch keine, die die Freundschaft überschritten, oder? Die Sache mit dem Kuss hatte ich mir ja bereits irgendwie erklären können und sonst war da nichts anderes weiter gewesen. Keine Wünsche, Erwartungen oder plötzliche Verlangen, die ich unbedingt stillen wollte. Nein, nichts an das ich mich erinnern konnte.

'Dass du anfängst zu denken, du wärst ersetzbar.' Glaubte ich das? Dass ich für Stegi ersetzbar war? Nicht unbedingt, dass hatte mir ja seine Reaktion bei unserem Treffen gezeigt. Er sorgte sich noch um mich und dachte nicht darüber nach, mich durch jemanden zu ersetzen! Vielmehr hatte ich Angst, dass er mich missverstehen könnte, wenn ich ihm von meinem Problem erzählte. Das konnte man ja eigentlich nur falsch verstehen, würde ich vielleicht auch, wenn Stegi mir davon erzählen würde.

Plötzlich hatte ich eine Idee, wie ich mir eventuell Klarheit verschaffen konnte. Es war zwar schon spät, aber hoffentlich war er noch wach und von der Arbeit nicht allzu sehr geschafft! Blind tastete ich nach meinem Handy, durchsuchte meine Kontakte und rief dann die Person an, die mir damals seine Hilfe angeboten hatte und die mich wohl am ehesten verstand!

Tobi ging nach drei Freizeichen ran. "Tim? Hi, schön dass du dich mal wieder meldest! Was gibts?" Er klang ein wenig aus der Puste und ich begann zu vermuten, dass das nicht von abendlichen Workouts kam. Peinlich, erst recht peinlich wäre es geworden, hätte ich fünf Minuten früher angerufen! "Äh, hi Tobi. Ich-ich hätte da mal eine Frage an dich. Bezüglich... Homosexualität und wie man das bemerkt..." Nervös spielte ich mit der Bettdecke. Aber bei ihm hatte ich geglaubt, das er mich wenigstens nicht auslachen würde, besonders nicht bei dieser Frage. Und wie erwartet klang er eher begeistert als belustigt! "Ach, sag bloß, du hast dich in Stegi verliebt! Das ist ja mega süß!"

"Nein, hab ich nicht! Denke ich... Ich weiß es nicht mehr... Kannst du mir bitte helfen?"

"Tooobii! Komm wieder zurüüück!", hörte ich in diesem Moment Rafael gedämpft aus dem Hintergrund rufen. Es knisterte ein wenig in der Leitung, als das Handymikrofon offenbar zugehalten wurde, bevor Tobi ihm ein "Moment Schatz, ist wichtig!" zurück warf. Dann meldete er sich wieder bei mir: "Sorry, jetzt kannst du wieder sprechen. Also, was empfindest du genau für ihn?"

Und ich erzählte ihm alles von heute. Angefangen von der spontanen Zugfahrt nach Jena bis zu meinem Gespräch mit Chrissy vom Nachmittag. Tobi unterbrach mich nicht und hörte mir bis zum Schluss aufmerksam zu, dann stieß er seine angestaute Luft aus. "Puhh, das ist hart. Hmm, ich will dir nicht zu nahe treten, aber hattest du bisher schon viele Freundinnen?"

"Nein", gab ich zerknirscht zu, schob aber schnell hinterher, "Aber nicht, weil ich schwul bin! Es hat sich bloß einfach nichts ergeben und ich hab eh viel zu wenig Zeit für eine!"

Tobi kicherte leise: "Ich hab nie behauptet, dass das daran liegen könnte! Aber prinzipiell dagegen hättest du nichts, oder?"

Ich war verwirrt. "Gegen was? Homosexualität oder eine Freundin?", hakte ich sicherheitshalber nach. "Beides!", meinte Tobi. Er schien ganz glücklich, jemandem endlich mit seinem Paradegebiet helfen zu können. "Ich hab eigentlich gegen beides nichts. Sonst hätte ich ja wohl kaum mit euch zusammen gelebt. Nur, ich bin mir so unsicher! Was wenn ich alles damit kaputt mache?!"

"Ruhig Tim, soweit waren wir noch gar nicht! ...Kannst du dir denn eine Beziehung mit einem Mädchen auf einer eher stark sexuell ausgeprägten Basis vorstellen? Also... sagen wir, mindestens zweimal wöchentlich eine Nacht zusammen?"

"Nein!", rief ich sofort. Schon die Vorstellung klang so schrecklich erzwungen. "Ich würde doch nie eine Partnerin nehmen, um sie nur so auszunutzen! Der Charakter ist mir da viel wichtiger und-"

"Tim! Ruhig, ich will dich doch nicht persönlich angreifen!", beruhigte mich mein Gesprächspartner. Stimmt, ich hatte mich wieder in Rage geredet. Mist! "Soll ich weitermachen, oder möchtest du lieber nochmal ne Nacht drüber schlafen?"

"Weiter, ich krieg jetzt eh kein Auge zu!", murmelte ich. Tobi hatte ja Recht, ich stand gerade nicht vor Gericht und er wollte kein Strafurteil über mich fällen! Er wollte mir bloß helfen, vielleicht einen leichten Schubser in die richtige Richtung geben. Geduldig wartete ich auf seine nächste Frage.

"Gut, wo waren wir? Ah ja, ich habs wieder! Könntest du dir im Gegensatz eine harmlose Beziehung mit einem Jungen vorstellen? Mit Stegi zum Beispiel. Nichts schlimmes, nur ab und zu mal Händchen halten, vielleicht ein Küsschen, Umarmungen, sowas halt. Und vor allem dazu auch vor anderen stehen, das wär fast das wichtigste! Denk ruhig erst nochmal kurz darüber nach, ich will dich nicht drängeln!"

Jetzt wurde es ernst. Ich schluckte, schloss meine Augen und versuchte mir eine solche Szene ins Gedächtnis zu rufen. Ich mit Stegi unterwegs in Essen, nur dass ich diesmal nach seiner Hand griff und meine Finger mit seinen verschränkte. Sein warmer, leuchtender Blick und sein reines Lachen, während er mich ansah. Selbst in Gedanken wanderte mein Blick jetzt zu seinen Lippen, unsicher, voller Selbstzweifel, aber ein Gefühl lag über dem allen wie eine warme, weiche Decke. "Du magst diesen Jungen über alles in der ganzen Welt. Was für einen leichteren, schöneren Weg gäbe es denn, ihm das zu zeigen, wenn nicht so?" Ich wusste es nicht. Beste Freunde küssten sich für gewöhnlich nicht, aber... aber bei Stegi fühlte es sich so richtig an! Und sollte er nicht vor mir zurückschrecken, dann war ich auch gerne bereit, zu meiner Tat zu stehen!

"Ja Tobi, das kann ich mir vorstellen...", wisperte ich noch ganz ergriffen von meiner Vorstellung. Stegi lachte mich glücklich an und schlenderte neben mir her, unsere verbundenen Arme in unserer Mitte übermütig schlenkernd. Ja verdammt, es sah so wunderbar und erfüllt aus, dieses Bild von uns beiden!

"Tim... ich kann dich beruhigen, das muss nicht zwingend heißen, dass du schwul bist. Du könntest genauso gut bi, pan oder alles mögliche andere sein, das lässt sich nicht auf Ferndiagnose einfach so in eine Schublade stecken! Aber, wenn du es Stegi beichten wollen würdest, dass du möglicherweise stärkere Gefühle als nur eine Freundschaft für ihn hast, dann tu das schonend! Überfall ihn nicht damit, ja? Dann würde er es sicherlich auch verstehen und dich schonmal nicht völlig im Stich lassen!", riet Tobi mir noch erleichtert zum Schluss. Ich nickte, auch wenn er das nicht sehen konnte. "Danke Tobi, ich werde dran denken! Mir gehts jetzt auch wieder besser! Dankeschön nochmal!"

"Ach Quatsch, doch nicht dafür! Ich hab dir gern geholfen, sag Bescheid, wenns nochmal was gibt! Vor allem dann, wenns positive Neuigkeiten gibt!"

"Tobiii, wo bleibst du denn! Es wird kalt!", jammerte Rafi wieder und ich lachte auf. "Lass ihn nicht weiter warten Tobster, gute Nacht! Richt Grüße aus!"

Der junge Mann stimmte mit ein, dann wünschte er mir ebenfalls nur die besten Träume und viel Erfolg, ehe er auflegte. Zufrieden ließ ich mein Handy beiseite segeln, fiel rückwärts in mein Bett und lächelte. Das Telefonat hatte mir ein bleischweres Gewicht von der Brust genommen! Plötzlich fühlte es sich nicht mehr unmöglich an, all meine widersprüchlichen Gefühle unter einen Hut zu bringen. Eine völlig harmlose Beziehung, nicht körperlich, aber dafür aufbauend auf unserer Freundschaft und unserem unendlichen Vertrauen zueinander. Das klang jetzt doch irgendwie machbar! Und Stegi verstand mich sicherlich auch. Wenn ich das richtige Timing und die richtigen Worte fand, würde er mich hoffentlich nicht ablehnen und vielleicht, vielleicht empfand er im unwahrscheinlichsten Fall sogar genauso wie ich!

Garfield - Zwei Jungs, ein Kater und ein verworrenes Schicksal (#Stexpert)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt