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Chrissy fand mich zum Glück rechtzeitig, bevor ich irgendeins meiner selbstzerstörerischen Vorhaben umsetzen konnte. "Oh my god!", rief sie erschrocken aus, ließ alles stehen und liegen, was sie getragen hatte und lief schnell zur Couch, auf der ich noch immer zusammengekrümmt und weinend lag, meine verquollenen Augen in die Ferne gerichtet. "Tim? Hey, Tim! Du hast doch nicht irgendwas genommen, oder? Hey, sag schon, was ist los?!", verlangte sie von mir zu wissen, während sie mir völlig überfordert über die Wange und durch meine Haare strich und mit der anderen Hand vor meinem Gesicht winkte und versuchte, mir so eine Reaktion zu entlocken.

Ich seufzte gequält und wollte mich wegdrehten, um nicht mit ihr reden zu müssen, entschied mich dann aber anders. Vielleicht half es ja etwas, das Gewicht von meiner Seele loszuwerden. "D-du hattest d-doch neulich gesagt, dass i-ich an einem geb-brochenen Herzen leide... Ich glaub, du hattest Recht!", brachte ich mühsam hervor und erhielt ein mitleidiges Geräusch von ihr zurück. "Oh nein... Sag nicht, sie hat dir einen Korb gegeben!", rief sie und machte sich daran, mir noch weiter über den Kopf zu streichen. 'Sie', ja... schön wärs wenns einfach nur irgendeine 'Sie' gewesen wäre! Bevor ich es verhindern konnte, entfuhr mir ein verächtliches Schnauben, dann nickte ich stumm. Sollte Chrissy doch von mir aus auch glauben, was sie für richtig hielt.

Sie nahm meine Reaktion wohl falsch auf, weil sie plötzlich leichthin meinte: "Und selbst wenn Tim, du findest schon noch die Richtige! Wenn sie dich nicht akzeptiert, dann hat sie dich auch nicht verdient! Schwamm drüber und vergiss sie!"

Sie stand auf, band sich ihren Zopf neu und ging mit einem letzten halb besorgten, halb aufmunternden Ausdruck in Richtung Küche. "Ich mach Bandnudeln mit Käsesoße, okay?"

"Ich bin nicht hungrig", murmelte ich. Ich war es wirklich nicht, Kummer und Traurigkeit füllten meinen Magen jetzt genügend aus, nachdem die Nervosität von vorhin abgeflaut war. Chrissy schnalzte störrisch: "Du musst etwas essen, Tim! Was wenn du morgen in der Uni sonst einen... einen Breakdown hast? Dann ist dir auch nicht geholfen!"

Mit diesen letzten Worten war sie verschwunden und ein paar Minuten später duftete es in der ganzen Wohnung köstlich. Der Hunger kam trotzdem nicht. Warum meinten Tobi und nun auch noch meine Mitbewohnerin, dass ich alles einfach so von mir schieben sollte oder konnte und so wieder glücklich wurde? Scheiße man, ich fühlte mich, als hätte mich jemand zusammengeschlagen! Sagte man das trauernden Leuten etwa so? "Schwamm drüber, alles wird gut!" Dann hatten diese Möchtegern-Retter entweder kein Herz oder absolut keine Ahnung, wie sich das anfühlte!

Nur widerwillig stand ich von meinem Platz auf und ließ mich in die Küche lotsen, als die Nudeln fertig waren und ich aß auch nur zögerlich und wie in Zeitlupe. Chrissy beobachtete mich dabei so lauernd, als würde ich damit ihre Kochkünste beleidigen, obwohl sie wusste, dass ich ihr Essen sonst mochte. Mehr als drei Gabeln bekam ich alleine nicht hinunter, dann wollte ich bereits aufstehen und in mein Zimmer gehen, aber das Mädchen bestand darauf, dass ich blieb und zumindest die halbe Portion aufaß. Seufzend befolgte ich ihre Anweisung und kaute unendlich lange auf jedem Bissen herum, bis sie endlich nachsichtig ihr Okay gab und ich gehen durfte.

Sie hatte gesagt, ich solle Stegi vergessen, weil er mich nicht verdiente. Das hatte ich nicht vor. Auf keinen Fall. Ich wollte darum kämpfen, dass wir uns wenigstens wieder in die Augen sehen und miteinander schreiben konnten! Ich würde morgen wieder die Uni sausen lassen und nach Jena fahren! Wenn er nicht auf sein Handy sah, würde ich ihn halt persönlich konfrontieren! Dann konnte er mir sagen, was er zu sagen hatte, aber er konnte mich nicht so eiskalt ignorieren!


"Stegi? Der Praktikant meinen Sie? Tut mir leid, der hat heute früh Bescheid gesagt, dass er die Arbeit bei uns abbrechen möchte! Einen Grund hat er leider auch nicht angegeben... Wenn wir nochmal von ihm hören sollten, können wir Ihnen gerne Bescheid geben!"

Ich nickte dankbar, aber mit einem beklommenen Gefühl im ganzen Körper, bevor ich noch meinen Namen, Handynummer und Anschrift bei der Firma hinterlegen ließ. Das passte nicht ins Bild, oder? Es war doch schon immer Stegis Wunsch gewesen, später einmal ein Arzt zu werden! Sonst hätte er sich niemals auf dieses fordernde und Nerven aufreibende Studium eingelassen. Und die Zeit, die er hier hätte arbeiten müssen, um das nächste Semester besuchen zu können, war noch nicht vorbei! Hatte er eine andere Stelle gefunden? Aber wieso würde er überhaupt hier weg wollen? Er hatte hier doch guten Anschluss gefunden! Oder...

Mir wurde kalt. Konnte es sein, dass Stegi gewusst hatte, dass ich ihn suchen würde, um ihn zur Rede zu stellen? Hieß das, er war tatsächlich auf der Flucht vor mir? Was glaubte er, was ich ihm antun würde, wenn ich ihn fand? Ich wollte doch nur die Wahrheit wissen und mein Freund dachte hoffentlich nicht wirklich, dass ich ihm deswegen auch nur ein Haar krümmen würde!

Nagut, dann würde ich als nächstes seine Wohnung suchen! Irgendwo hatte ich noch die Adresse abgespeichert und vielleicht konnte mir dort jemand helfen! Oder Stegi selbst war noch da, das würde natürlich alles vereinfachen!

Doch mein Wunsch ging nicht in Erfüllung. Zwar fand ich das Haus schnell und sein einziger Mitbewohner war gerade Zuhause, aber er hatte schlechte Neuigkeiten: "Ich war von gestern Nachmittag bis Mitternacht mit Freunden auf einer Party und seitdem hab ich ihn auch nicht nochmal gesehen! Reicht das?" Seine unterdrückte Wut überraschte mich. Die beiden waren nicht wirklich gut miteinander ausgekommen, das hatte ich gehört, aber dass es tatsächlich so schlimm um die beiden stand, hatte ich nicht gewusst. "War Stegi denn nicht nochmal hier seitdem?", hakte ich nach und hörte ihn frustriert aufstöhnen. "Nein, war er nicht! Hast du mir nicht zugehört oder wie? Das einzige, was ich noch gefunden hatte, waren ein paar Sachen von ihm und ein Zettel, dass er auszieht und sich ne andere Bude sucht. Hat der vielleicht mal dran gedacht, dass ich die ganze scheiß Miete jetzt allein stemmen muss?! Wenn du den in die Finger kriegst, dann richte ihm von Mike aus, dass er mir einen ganzen Haufen Kohle schuldet!"

Ich horchte auf. "Einen Zettel?", fragte ich leicht alarmiert. Mich beschlich nämlich ein Verdacht und dieser Zettel konnte ihn vielleicht bestätigen, auch wenn das keine gute Sache war, aber es wäre ein Anfang! Mike musste mich enttäuschen: "Den hab ich schon entsorgt, zusammen mit dem ganzen Rest! Falls du es wissen willst, ich weiß noch den Wortlaut." Er räusperte sich kurz und verstellte absichtlich seine Stimme mindestens vier Tonlagen zu hoch. "'Hey Mike, ich habs satt hier und hau jetzt ab. Such nicht nach mir!' Pah, als ob ich nach dem Arsch noch suchen würde!"

Ich nickte, überlegte rasch und widerstand der Versuchung, dem Typen eine reinzuhauen. Nicht nur, dass er viel kleiner als ich war und trotzdem so mit mir sprach, aber egal was zwischen Stegi und mir jetzt war, niemand beleidigte meinen Dino ungestraft! Niemand!

"Gut, danke für die Auskunft, Superhirn. Ich geh jetzt zur Polizei und wenn die rauskriegen, dass du Beweismaterial vernichtet hast, hängst du da auch noch mit drin!" Ein wenig zufriedener als davor sah ich kurz Mikes Gesichtszüge entgleisen, doch er fing sich schnell wieder. "Zur Polizei, soso. Und was willst du denen erzählen? Dass dein Kumpel sich in Luft aufgelöst hat oder was?"

"Nein. Ich denke, dass er entführt wurde!"

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Oh weh, scheint als fehlt von Stegi jede Spur... Und als wolle er nicht gefunden werden. Oder wurde er tatsächlich entführt? Irgendwelche Theorien?

Garfield - Zwei Jungs, ein Kater und ein verworrenes Schicksal (#Stexpert)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt