Aswang Teil 1

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Hunger zu haben, ist Hölle. Kaum auszuhalten, lieber würde ich mich vierteilen lassen! Es fühlt sich auch fast so an, wenn ich mich tagelang nicht genährt habe. Deshalb habe ich auch furchtbares Mitleid mit diesen armen, unterernährten Kindern aus Afrika und spende immerzu. Ich gebe jedem Bettler nach, jedem Hilfsorganisationsstand, die mich für eine senile Alte halten, der sie das Geld aus der Tasche ziehen können. Irgendwie ist es, als könnte ich so etwas wieder gut machen, obwohl Mitleid nicht in mein Repertoire gehört.

Denn ich bin nicht immer eine senile, alte Dame. Wenn ich anderen Hunger bekomme, bin ich ein gutaussehender Kerl. Und für meine Patientinnen bin ich der nette, leicht vertüddelte Arzt, wie auch für meine flippige Nachbarin Isa. Sie lebt alleine, so wie ich, in einem riesigen, häßlichen Wohnkomplex, obwohl ich mir eine Villa leisten könnte, doch gerade hier bin ich unter den vielen Menschen unsichtbar. Niemand beachtet mich wirklich, dafür habe ich mit meinem durchschnittlichen Aussehen gesorgt. Doch Isa mag mich, anscheinend, sie grüßt mich immer, bringt mir Kuchen vorbei, den ich nicht essen werde. Wenn sie das tut, sage ich ihr immer, dass ich gerade gegessen hätte und ihn später genießen würde. Dabei klopfe ich mir zur Untermalung des Ganzen auf meinen leicht vorstehenden Bauch. Ja, ich sehe aus, wie ein typischer Mittfünfziger, mit Bauchansatz und Lesebrille. Warum also lächelt die um zehn Jahre jüngere Frau mich immer so niedlich an? Ja, niedlich. Normalerweise bin ich nur auf die Beschaffung von Nahrung fixiert, in keinem meiner Leben hatte ich mich ernsthaft in ein menschliches Lebewesen verguckt, aber Isa...ist besonders. Sie hat etwas an sich, was ich nicht greifen kann, obwohl ich immer geglaubt habe, dass ich die Menschen in- und auswendig kenne.

„Dr. Coulter, haben sie den Bericht über Miss Albert schon fertig?", fragt Laura, eine der Sprechstundenhelferinnen, die hier im Zentrum arbeiteten.

Ich blicke auf.

„Ja. Er liegt...Moment. Wo habe ich ihn nur hingetan?", murmele ich und kratze mir durch mein schütteres Haar.

„Äh...sie haben...ihn handschriftlich verfaßt?", wundert sich Laura und ich stöhne.

Habe ganz vergessen, dass im Jahre 2018 alles über die Computer abgewickelt wird- selbst meine Unterschrift ist darüber gespeichert! Ich setze mich also wieder hin, klappe den Laptop auf und erwidere:

„Entschuldigen sie, natürlich nicht. Ich muss ihn noch signieren, dann können sie ihn an das Jugendamt schicken."

„Gut. Das Mädchen ist...ziemlich nervös wegen der ganzen Sache. Und da ist eine neue Patientin, die unbedingt zu ihnen möchte."

Ich seufze.

„Ich habe gleich Feierabend. Was ist mit Elisabeth?", hake ich hoffnungsvoll nach.

„Wie gesagt, die Dame hat nach ihnen verlangt, Doktor." 

Nun habe ich keine Argumente mehr und antworte: „Gut, schicken sie sie herein. Und bitte, sorgen sie dafür, dass endlich die Fensterputzer kommen. Wenn ich noch länger lesen muss, dass ich ein Mörder bin, glaube ich irgendwann selbst daran!"

Natürlich ist es von innen nur in Spiegelschrift lesbar: !redröM. Trotzdem nervt es mich. Ich höre Stimmen und stehe auf, gehe der neuen Patientin entgegen, doch als sie durch die Tür kommt, bleibe ich abrupt stehen.

„Isa?", hauche ich erschrocken.

Sie ist die Letzte, die ich hier erwartet hätte! Schließlich ist sie single. Und fast in den Wechseljahren! Meine hübsche Nachbarin sieht aus, als hätte sie geweint.

„Bitte, setz dich doch", murmele ich und ziehe ihr den Stuhl zurück.

Dann nehme ich meinen sicheren Platz hinter dem Schreibtisch wieder ein und spüre, wie mein Herz immer noch aufgeregt klopft. Dieses Exemplar Mensch hat einfach wunderschöne, große Augen, ich muss prompt schlucken, weil Isa mich so hilfesuchend anschaut. Eine dämliche, absolut unnötige Reaktion von mir, da der andere Hunger wieder zugenommen hat!

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