Kapitel 4

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"Nimms nicht so schwer", sagte Marie tröstend und legte ihren rechten Arm um meine Schultern.

"Mhm", machte ich nur.

"Und du solltest Amelie von deinen Gefühlen zu Finn erzählen", schlug sie vor. "Dann kann sie ein bisschen auf dich Rücksicht nehmen".

"Aber sie wird doch bestimmt durchdrehen, wenn sie davon erfährt!", jammerte ich.

"Aber du wirst mehr Schwierigkeiten bekommen, wenn sie es irgendwann durch Zufall an einem ungünstigen Moment rausfindet!", sagte sie entschlossen.

"Okay", erwiderte ich niedergeschlagen.

Kurze Zeit später verabschiedete sich Marie wieder und ich war wieder allein. Trübselig starrte ich die weiße Wand meines Zimmers an. Sollte ich Amelie wirklich von meinen Gefühlen zu Finn erzählen? Was wenn sie schon zusammen sind und sie dann denkt, dass ich sie auseinander bringen will? Aber hätte ich überhaupt eine Chance bei ihm? Wir redeten so gut wie nie, außer, wenn es wirklich notwendig war, ansonsten wechselten wir nur ein paar Blicke. Letztens hatte er mich sogar bei einem Referat ausgelacht, weil die Technik nicht mitgespielt hatte. Daraufhin habe ich ihn zuerst sehr böse angeschaut und dann auch noch einen blöden Kommentar dazu abgeben. Danach war Ruhe und ich konnte ungestört mit meinem Referat beginnen.

Spät am Abend konnte ich einfach nicht einschlafen. Ich drehte mich von der linken Seite, auf die rechte Seite und wieder zurück. Ich legte mich auf den Rücken, auf den Bauch, aber nichts brachte auch nur ansatzweise etwas. Ich konnte einfach nicht einschlafen, so sehr ich mich auch bemühte.

Irgendwann rappelte ich mich dann auf, holte meine Handy aus der Schublade neben meinem Bett und ging auf Muchwrite. Mal sehen, ob mir jemand geschrieben hatte. Eine Nachricht von Eis - Emilio kam rein.

~Hey, mir ist langweilig, was geht?~

<Hey, ich kann nicht einschlafen, hab zu viel im Kopf>

~Willst du darüber reden?~

<Es geht um einen Jungen...>

~;)~

<Ich finde ihn irgendwie toll...aber er trifft sich mit einer meiner Freundinnen...>

~Das ist natürlich blöd...~

<Ja>

~Rede mit deiner Freundin, sie wird dich schon verstehen!~

<Ich weiß nicht...>

~Machs morgen und sag mir dann, wie es war ;)~

<Okay...>

~Du schaffst das schon~

<Mal sehen>

Nachdenklich legte ich mein Handy wieder auf die Seite. Ich wusste gar nicht, dass es so einen Jungen überhaupt gab. So nett und so vernünftig. Er war definitiv anders wie alle anderen Jungen. Aber auf der guten Seite. Ich finde anders sein sowieso viel besser. Jeder sollte so sein, wie er sich wohlfühlt und nie wie andere es wollten.

Am nächsten Morgen war ich mal wieder spät dran und so verzichtete ich auf mein Frühstück.

Ich hetzte die letzten Treppenstufen zu meinem Klassenzimmer hinauf und sprintete um die Ecke und blieb plötzlich abrupt stehen. Neben der Tür standen Amelie und Finn, welche sich leidenschaftlich küssten. Ich schluckte schwer und begann dann einen Schritt nach dem anderen zu tätigen. Ich musste weiter gehen. Jetzt bloß nichts anmerken lassen.

Im Klassenzimmer ließ ich mich auf meinen Platz nieder und stürzte mich auf meine Ellbogen. Ich setzte meine Brille ab und wischte mit meinen Händen über meine Augen. Mir war auf einmal schlecht, seitdem ich die beiden vor der Tür knutschen gesehen hatte. Ich trank einen Schluck Wasser und hoffte, dass es dadurch besser werden würde, denn es konnte wohl nicht sein, dass es mir deswegen nicht gut ging. Aber anscheinend konnte es das. Anstatt, dass es mir besser ging, wurde es immer schlimmer. Als ich das Gefühl hatte, mich übergeben zu müssen, sprang ich, wie am Tag zuvor auch, überstürzt auf und rannte aus dem Klassenzimmer. Mein Ziel war die Damentoilette, doch die verließ ich sofort wieder, als mir ein beißender, sehr unangenehmer Geruch in die Nase stieg. Daraufhin steuerte ich den Pausenhof an und nahm auf der schon etwas älteren Holzbank platz. Ich atmete tief ein und aus und langsam ließ das Gefühl der Übelkeit wieder nach. Ich blieb noch eine Weile auf der Bank sitzen, ehe ich mich wieder auf dem Weg zu unserem Klassenraum machte.

Bei der Verbindungstür zwischen Altbau und Neubau stieß ich mit jemandem mit dem Kopf zusammen. Ich drohte nach hinten zu fliegen, doch eine kräftige Hand packte die Meine und beförderte mich wieder in den sicheren Stand. Erleichtert schaute ich auf und blickte direkt in die hellbraunen, funkelnden Augen von Finn.

"Danke", stammelte ich.

"Kein Problem", erwiderte er mit einem breiten Grinsen im Gesicht.

Dann setzte er seinen Weg fort und ich tat dasselbe. Diesesmal gelang es mir nicht, mich heimlich ins Klassenzimmer zu schleichen, sondern Frau Reich bemerkte meine erneute Anwesenheit und musste natürlich gleich ihren Senf dazu geben.

"Wo warst du? Ist schon sehr auffällig, dass du zur selben Zeit wie Finn das Klassenzimmer verlässt, findest du nicht?", fragte sie herausfordernd.

Ich schüttelte nur den Kopf und trottete mich gefühlt hochrotem Gesicht zu meinem Platz.

"Sag mal, Emilia, das stimmt doch nicht, oder?", wollte Amelie wissen und sah mich mit einer hochgezogenen Augenbraue an.

"Natürlich nicht", quetschte ich zwischen den geschlossenen Zähnen hervor.

"Gut", meinte sie und ihre Gesichtszüge entspannten sich wieder.

Nach der Schule radelte ich gemächlich nach Hause. Komischerweise hatte ich blendende Laune und ich freute mich auf Eis - Emilio, der vermutlich Emilio hieß. Ob er mir wohl geschrieben hatte? Ich spürte wie mein Herz schneller zu schlagen begann. Was war das denn? Hatte ich etwa in der kurzen Zeit Gefühle für den Jungen entwickelt? Obwohl ich ihn gar nicht persönlich kannte?

Zuhause angekommen stellte ich mein Fahrrad ab und betrat das kühle Haus. Ich ging in die Küche und sah nach, ob noch etwas essbares im Kühlschrank war. Ich wurde tatsächlich fündig. Ich fand ein paar Sandwiches und schnappte mir zwei davon und machte mich auf den Weg in mein Zimmer.

Nachdem ich mein Essen genussvoll verdrückt hatte, schlug ich mein Mathebuch auf und gleich wieder zu. Die Hausaufgaben konnten warten. Zuerst werde ich auf Muchwrite vorbeischauen und nachsehen, ob Emilio mir geschrieben hatte.

~Na, hast du es geschafft?^^~

Er hat mir geschrieben. Die Nachricht ist vor gerade einmal fünf Minuten eingetroffen, vielleicht ist er noch am Handy. Also tippte ich eine Antwort.

<Ne, leider nicht...es gab einen Zwischenfall...>

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