33. Mal

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»Alessandra, ich kenne dich jetzt seit vielen Jahren.«

Er stellte fast immer einen Namen an den Anfang, das war mir bereits beim vierten Mal klar gewesen. Zuerst einen Namen, es musste dabei nicht zwingend mein richtiger sein, undanschließend eine herzzerreißende Geschichte, die meistens kaum einen Hauch der Wahrheit enthielt. Es war ein Gutes, dass mein bester Freund den Literaturkurs an der Fachhochschule besuchte. Er hatte das Talent, Autor zu werden. Wenn er nicht so stinkend faul wäre.

»Wir sind zusammen aufgewachsen, haben Tragödien und Elend miteinander geteilt. Genau wie Glück und Fröhlichkeit. Ich tröstete dich, als Tim dich verließ, du hast mich auf andere Gedanken gebracht, als Jenny etwas mit unserem Sportlehrer hatte.«

Ein kehliges Lachen entwich meinen Lippen, als ich mir unweigerlich vorstellen musste, dass Noahs Exfreundin etwas mit der bärtigen Frau Ulmer hatte. Seinem kreativen Geist waren an diesem Abend mal wieder keine Grenzen gesetzt, was ich an ihm bewunderte. Woher auch immer diese spontanen Einfälle kamen, sie waren genial.

»Du bist der erste Gedanke am Morgen und der letzte am Abend. Und als wir anfingen, miteinander auszugehen ... Da wusste ich es. Ich will keine verrückten Abenteuer, keine Fahrradtouren durch die Schweiz oder Tauchausflüge in der Karibik. Denn ich will nur dich und ein gemeinsames Leben.«

Ich schlug beide Hände vor den Mund zusammen und strengte mich an, bis eine einzelne Träne meine Wange hinunterlief.

Danke Theaterkurs der siebten Klasse.
Nicht nur Noah wusste, wie man anderen etwas vormachte.

»Ich bin kein Mann großer Worte, Alessandra. Aber du machst mich zum Poeten.« Er stockte. Schüttelte den Kopf und fasste sich an die Augen, bevor er an seine Hosentasche griff und das Samtkästchen herausholte. Wir hatten es auf einem Trödelmarkt für drei Euro ersteigert und es war seitdem eine Requisite, die nur selten fehlte. Dass das Innere leer war, fand nie jemand heraus, soweit kamen wir nie. Bisher hatte auch noch nie jemand nach meinem Ring gefragt.

Oh mein Gott. Noah weint. Das werde ich ihm sowas von unterdie Nase reiben.

»Ich liebe dich und ich will den Rest meines Lebens mit dir verbringen. Deswegen frage ich dich: Willst du meine Frau werden?«

Ich zögerte nicht, erhob mich schnell von meinem Stuhl des kleinen Cafés am Rande der Großstadt und warf ihm die Arme um den Hals. Erst als ich mir sicher war, dass Noah mich auch wirklich festhielt, brüllte ich ein »Ja« heraus, das im gesamten Laden zu hören war.

Die anderen Gäste stimmten ins Gebrüll ein und applaudierten uns freudig. Vielleicht dachten sie an ihre eigenen Partner, an ihre Verlobungen, vielleicht hassten sie mich, weil ich ja augenscheinlich Noah hatte, vielleicht beneideten sie uns beide. Vielleicht wollten sie wie wir sein. Verübeln könnte ich es ihnen jedenfalls nicht, ich würde auch nicht jemand anderes sein wollen.

Nur langsam rappelten wir uns wieder auf, ich zuerst, bevor ich Noah meine Hand reichte. In einigen Stunden, auf dem Heimweg, würde er vermutlich über sein schmerzendes Knie jaulen. Darüber, wie ungemütlich der Fliesenboden war. Ich würde lachen und ihn mit seinen falschen Tränen aufziehen, bevor ich in meinem Handy die Adresse und den Namen des Cafés in die Liste eintragen würde.

Die Liste der abgearbeiteten Orte.

Es war ein Ritual geworden zwischen uns. Eins das ich nicht missen wollte.

»Na, küssen Sie sie doch endlich!«, warf eine Frau von links ein und Noah zögerte keine Sekunde. Er legte mir eine Hand an den Nacken und eine an die Hüfte, zog mich zu sich heran.

Es hätte so romantisch sein können. Wundervoll und der Anfang einer Liebesgeschichte. Stattdessen verfluchte ich ihn, weil er mal wieder zu viel Knoblauch gegessen hatte.

»Du machst mich zum glücklichstenMann auf Erden«, hauchte er zum Abschluss und vergrub erneut sein Gesicht in meinen Haaren. »Das nächste Mal nehmen wir die Jungs mit. Die sammeln vielleicht Spenden für uns.«

»Was bist du doch für ein Romantiker«, erklärte ich und biss ihm in den Hals, weil ich wusste, wie sehr er das hasste. Er verabscheute viele Dinge. Rosinen, beispielsweise. Fahrradfahrer. Werbespots. Tierquäler. Mit nassen Haaren vor die Tür zu gehen. Die Minions. Antiwitze. Coldplay. Kaffee. Schlaglö...

»Ich gratuliere dem frisch verlobten Paar.«

Mein Blick glitt von Noah zu dem jungen Kerl, der sich an unseren Tisch verirrt hatte. Er passte nicht in das Ambiente und das Klientel des Cafés. Genauso wenig wie wir selbst dorthin passten, zwischen frustrierte Hausmütterchen und vergreiste Omas. Doch das machte den Reiz aus, es an so vielen Orten wie möglich zu versuchen.

»Vielen Dank«, sagte ich höflich und knuffte Noah in die Seite, damit er seine Aufmerksamkeit ebenfalls auf den jungen Mann richtete. Doch bevor Noah sein Gespräch mit der Kellnerin unterbrechen konnte, fasste der Fremde sich an die nicht vorhandene Hutkrempe, deutete eine Verbeugung an und verschwand aus den Milchglastüren, hinaus auf die Straße.

Seltsame Menschen fanden wir wohl überall.

99 MalWo Geschichten leben. Entdecke jetzt