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Mein Problem war nur noch, dass ich ein großer Angsthase war. Ich nahm mir den Ostersamstag, -sonntag und -montag vor, um mit Noah über meine Vergangenheit zu sprechen. Und im letzten Moment blieb ich doch zu Hause und beendete den Disney-Marathon.

Auch Daniel fiel auf, dass etwas mit mir nicht stimmte. Er drängte zwar nicht dazu, mich zu erklären, aber ich wusste auch so, dass er neugierig war.

»Was wäre, wenn ich dir sage, dass ich dir einen Teil meines Lebens verschwiegen habe?«, fragte ich am Dienstag nach Ostern nachdenklich und fuhr mit den Fingern Kreise auf seinem nackten Bauch. Wir lagen noch gemütlich im Bett und zögerten die Zeit des Aufstehens hinaus. Zumal Daniel erst in einigen Stunden bei der Arbeit erscheinen musste.

»Ich würde dich fragen, wieso du das tust und dir sagen, dass du mir alles erzählen kannst.«

»Und wenn es etwas schreckliches ist?« Ich richtete mich auf einem Ellenbogen auf, damit ich ihm ins Gesicht sehen konnte. Ein Bartschatten wuchs auf seinem Kinn und er sah unausgeschlafen aus, obwohl das Lotus das Wochenende über geschlossen hatte. Ein bisschen nagte es an mir, dass Daniel wenig Schlaf bekommen hatte, auch wenn ich nicht mit dabei war. Dass er auch ohne mich viel Spaß hatte.

Daniel schien zu dämmern, dass ich im Begriff war, eines meiner größten Geheimnisse zu erzählen und zog sich umständlich hoch, damit er aufrechter sitzen konnte.
»Es gibt nichts, das zu schrecklich ist, um erzählt zu werden.«

Hatte er eine Ahnung ...

»Nathalie redet noch immer nicht mit mir.« Ich kniff. Erneut. Nicht nur Noah gegenüber, sondern auch Daniel. Schuldgefühle machten sich breit, und als ich seinen verletzten Gesichtsausdruck sah, wurde das Gefühl, das mein Herz umklammerte, nur noch größer.

Doch ich konnte nicht. Er war nicht der Erste, der das hier hören sollte.

»Das wird sie schon bald wieder«, versicherte Daniel, doch so sicher klang er dabei nicht. »Sie braucht Zeit.«

Zeit. Wie musste die sich fühlen, immer die Schuld an allem zu haben. Oder die ganze Last auf den imaginären Schultern. Sie musste einen Fulltime-Job erledigen, ohne Urlaubstage oder einen freien Abend. Immer wurde erwartet, dass sie etwas veränderte, etwas besser machte. Ich fühlte mich der Zeit sehr verbunden.

Müde krabbelte ich aus dem Bett und schlüpfte in eins meiner Schlaf-Shirts. Der Frühling war angekommen, ließ die Sonne auf das Haus scheinen, sodass ich nicht fror, als ich in die Küche hinunterlief, um Kaffee zu kochen. Nach wie vor zögerte ich, Daniel seinen eigenen Benutzeraccount in der Kaffeemaschine zu geben. Was seltsam war, aber mir wichtiger als ein Haustürschlüssel. Es bedeutete immerhin, dass er blieb. Noch öfter zu Besuch kam. Ich war mir einfach noch nicht sicher genug, dass er bleiben würde.

»Schneewittchen«, nuschelte Daniel vorwurfsvoll und stand im Eingang zur Küche. Seine Locken standen wirr vom Kopf ab und er trug nur noch seine Shorts. Ein Bild für die Götter, das ich liebend gerne fotografiert und an die Wand gehängt hätte. »Eine Prinzessin verschwindet nicht einfach kommentarlos aus dem Bett.«

»Doch, wenn die Diener ihre Klingel nicht hören«, erwiderte ich mit einem leichten Schmunzeln, beugte mich zu ihm und küsste ihn. »Und jetzt geh duschen, Noah kommt später, um sein Werkzeug abzuholen.«

Kurz verspannte sich der Kiefer von Daniel, ehe er sich umdrehte und die Treppen wieder hochlief. Ich kannte die Bedenken, die er Noah bezüglich hatte. Schon vor einigen Tagen führten wir erst ein Gespräch darüber, dass mein bester Freund während seiner Semesterpause viel Zeit bei mir verbracht hatte.

Wir frühstückten gemeinsam, Daniel fuhr zur Arbeit und versprach, sich zu melden. Ich hingegen räumte auf, drehte das Radio auf und tänzelte durch das Untergeschoss, während ich Wäschestücke aufsammelte und in die Waschmaschine stopfte. Es kam nur noch selten vor, dass ich derart ausgelassen sein konnte, wenn ich allein war. Zumindest seit Alessandra sich in mein Leben einmischte.

Das einzige, was ich über dieses Thema von Nathalie erfahren hatte, fand über spärlichen E-Mailkontakt statt. E-Mails von meiner eigenen Cousine, man stellte sich das einmal vor.

»Die Polizei beobachtet sie. Sie hoffen, dass sie sie zu anderen Strohmännern führt, jetzt, da sie draußen ist«, hatte beispielsweise in einer solchen Mail gestanden. Kein »mach dir keine Sorgen« oder »du bist sicher«. Nur die nüchterne Weitergabe von Informationen.

Es war nicht viel, es war echt beschissen wenig. Ich hatte auf einen Aufenthaltsort gehofft oder noch besser: Dass sie schon wieder in Haft saß. Ein Zeichen, dass sie mir mein Leben nicht zerstören konnte, so wie ich ihres zerstört hatte.

Aber nichts.

Als Noah am frühen Mittag mit seinem eigenen Schlüssel ins Haus kam, erschreckte er mich dabei. So viel zum Thema ungezwungenes Verhalten, wenn ich alleine war.

»Scheiße, Noah!«, fluchte ich und hockte mich hin, um die Teelichter aufzusammeln, die ich hatte fallen lassen.

Noah versteckte sein Grinsen, das mir dennoch auffiel. Auch er ging in die Hocke, um zu helfen. »Kerzen? Sag nicht, du hattest Besuch hier. Frau Stiesing, Sie Luder.«

Empört schlug ich ihm auf den Arm und verengte scherzhaft böse die Augen. »Du bist ein Idiot. Aber so wie du glühst, hattest du auch Spaß.«

Es war nichts Ungewöhnliches, uns auch über unsere Privatsphäre zu unterhalten. Immerhin waren wir erwachsen, lebten nicht keusch und waren nicht so prüde, um das Thema Sex zu verschweigen.

»Kann sein«, erklärte Noah und diesmal tarnte er sein Grinsen nicht. »Elaine ist wirklich begabt mit ...«

»Ih!«, unterbrach ich ihn schnell und hielt mitten in der Bewegung inne. Ich glaubte den unverkennbaren Geschmack von Galle in meinem Rachen zu schmecken. »Sprich nicht weiter.«

Noah schien aufzufallen, dass es mir ernst damit war und schwieg.

Immer diese blöde Angst. ich verfluchte mich selbst dafür. Wäre ich jetzt ehrlich zu ihm, könnte ich sagen, was mir im Kopf herumschwirrte. Nämlich dass Elaine nur so gut im Bett war, weil sie damit besondere Erfahrung hatte. Vielleicht war ja das die Überleitung, die ich gebraucht hatte ...

»Hey, Noah, deine Freundin kann dich nur so gut befrieden, weil sie in einem Puff namens 'Calla' gearbeitet hat. Woher ich das weiß? Na ja, ihre Chefin war meine Mutter. Die im Knast war, weil ich sie an die Polizei verpfiffen hab. Und jetzt ist sie draußen und hasst mich. Aus diesem Grund ist vermutlich auch Elaine mit dir zusammen, um Informationen über mich zu sammeln.«

Das würde Noah sicher verstehen.

Trotz meiner eigenen sarkastischen Gedanken holte ich tief Luft und erhob mich schwerfällig. Ich durfte es nicht mehr rausschieben. Noch einmal holte ich tief Luft. »Hast du ein paar Minuten länger? Ich muss mit dir reden.«

»Das klingt, als willst du mir sagen, dass du unheilbar krank bist«, sagte Noah mit einem leichten Tonfall, musste aber an meinem Gesicht erkennen, dass es sich tatsächlich um ein ernstes Thema handelte. Auch sein Lächeln erstarb.
»Sag mir, dass du nicht wirklich krank bist.«

Er ergriff mein Handgelenk, da in meinen Händen die Überreste der ganzen Teelichter waren und drückte leicht zu. »Jetzt spann mich nicht auf die Folterbank und rede. Hat Daniel was gemacht? Soll ich Kai und Ari anrufen, um ihn zu verkloppen?«

»Wie kommst du auf die Idee, dass ...« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, es hat nichts mit Daniel zu tun. Viel eher mit Elaine ...«

Noah unterbrach mich umgehend. »Reden wir nicht über meine Freundin, okay? Ich weiß ja, dass du sie nicht leiden kannst. Aber das möchte ich nicht mehr hören.«

Nicht leiden können war bekanntermaßen noch eine Untertreibung. Dass Noah aber wusste, wie es um meine Gedanken stand, verunsicherte mich. Er kannte mich so gut. Besser als die meisten anderen. Aber wenn er jetzt erfuhr, was ich ihm all die Zeit verheimlicht hatte ...

»Hast recht«, sagte ich lächelnd und erhob mich vom Boden. »Ich will nur, dass du glücklich bist.«

»Bin ich, Al. Bin ich wirklich.«

99 MalWo Geschichten leben. Entdecke jetzt