-

2.4K 229 24
                                    

Den Autositz lieh ich mir von den Nachbarn gegenüber, deren Tochter schon herausgewachsen war. Sie schienen sehr nett zu sein, auch wenn ich noch nie viel mit ihnen gesprochen hatte. Doch Nathalie hatte mir dazu geraten, als ich auch sie verzweifelt angerufen hatte.

Zunächst sträubte Philipp sich, sich in einen Sitz zu setzen, der rosa Blümchen aufgedruckt hatte und dieses Mal konnte ich ihn sogar verstehen. Als ich ihm jedoch versprach, mit ihm zum Restaurant mit der goldenen Möwe zu gehen, war er entspannt und ließ sich ohne Murren anschnallen.

Nachdem ich mich mehrfach versichert hatte, dass die Kindersicherung der Tür auch eingestellt war, sprang ich hinters Steuer. Würde schon alles schief gehen. Nicht wahr?

***

»Die Freundin meines Papas ist eine Prostituierte!«, waren Philipps erste Worte, nachdem wir uns an einen kleinen Tisch in dem Fast Food Restaurant niedergelassen hatten.

Ich spuckte beinahe meine Cola auf den Tisch aus. Ich konnte mir diese Unterhaltung zwar lebhaft vorstellen, aber dass Philipp diese Worte in den Mund nahm ...

»Würdest du das bitte nicht laut sagen?«

»Wieso?« Er stopfte sich eine Handvoll Pommes in den Mund. »Mama hat gesagt, sie ist eine Prostituierte, die nur an Papas Geld will. Aber Papa hat gar kein Geld.«

Wieder blieb mir alles im Hals stecken, bevor ich herzhaft zu lachen anfing. Sicher verstand er noch nicht, was genau er von sich gab. Er wiederholte die Wörter, die er zufällig aufgeschnappt hatte. Und es passte zu Yvette, kein Blattvor den Mund zu nehmen. Nicht einmal vor ihren Kindern.

[Aly an Noah]
»Du liebst mich doch,oder?«

[Noah an Aly:]
»Ist das eine Fangfrage? :P«

[Aly an Noah]
»Einkaufszentrum. Schuhladen im 1.OG Komm. Pronto!!!!!!«

In dem Schuhgeschäft war es ruhig, kühl und vor allem: Leer. Nach den ganzen Blicken, die wir in dem Fast Food Schuppen abbekommen hatten, war ich sehr froh darüber. Ein weiterer Vorteil dieses Ladens war, dass ich mich hier auskannte. Ich hatte selbst schon Schuhe dort gekauft und wusste auch, dass die Kinderabteilung im hintersten Teil angesiedelt waren. Sogar ein schöner kleiner Fernseher stand dort, vor dem Philipp sich auch erwartungsgemäß sofort niederließ.

Entspannt und endlich mit ein wenig Zeit, um durchzuatmen, schlenderte ich durch die Schuhregale und suchte einige Turnschuhe heraus, die Philipp gefallen könnten. Eines hatte Iron Man auf der Seite, der sein Lieblingssuperhelden war. Vorhin hatte ich vorsorglich auf Philipps jetzigen Schuhen nach der Größe geschaut, sodass ich mit sechs Kartons zu ihm kam und es kaum schaffte, seinen Blick vom Bildschirm abzuwenden, damit er sie anprobierte. Aber er hielt den Mund, was ein Erfolg war.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte eine Verkäuferin und ich schüttelte den Kopf. Bisher hatte ich doch alles hervorragend unter Kontrolle. Philipp war abgelenkt, ich schaffte es mit einem Rucken und Ziehen, ihm die verschiedenen Schuhmodelle anzuziehen, und Noah würde sicher gleich auftauchen. Es lief viel besser als noch am Morgen, also vielleicht war ich doch nicht so ungeeignet, mit Kindern umzugehen, wie ich angenommen hatte.

»Meine Mama sagt, alle Frauen sind Prostituierte«, gab Philipp seinen Senf dazu, ohne den Blick von dem Fernseher abzuwenden.

Die Verkäuferin hob entrüstet die Augenbrauen und warf mir bitterböse Blicke hinunter, doch ich hatte mich schon längst daran gewöhnt. Weswegen ich auch gar nicht erst versuchte, mich zu erklären. Da sowieso jeder anzunehmen schien, dass ich diese Mutter war, die alle Frauen für Prostituierte hielt, sollten sie das halt glauben.

Dennoch hatte ich nicht erwartet, dass Yvettes Sohn so unerzogen und frech war. Oder lag es tatsächlich nur daran, dass ich für ihn eine Fremde war? Kinder testeten doch gerne ihre Grenzen, vielleicht war das seine Art, meine zu testen.

»So etwas sagst du?«, fragte Noah plötzlich über mir und erleichtert seufzte ich. Noah besaß diese beruhigende Wirkung, die mich sofort einnahm. Nicht zum ersten Mal wurde mir das bewusst und was war ich froh, dass ich immer auf ihn zählen konnte.

»Hallo, großer Mann«, sprach er weiter und beugte sich zu Philipp hinunter, der zum ersten Mal von dem Zeichentrickfilm aufsah, der vor ihm lief. »Philipp, richtig?«

Er nickte artig und sah nicht mehr wieder Teufelsbraten aus, den er bei mir Zuhause hatte raushängen lassen. Und Leute schafften sich so etwas freiwillig an? Machten eine Schwangerschaft mit, pressten diese viel zu großen Wesen aus einer viel zu kleinen Öffnung, um dann die kommenden vierzig Jahre so etwas an der Backe zu haben?

Meine Vorstellung von der Zukunft sah mit einem Mal ganz anders aus. Nicht dass ich je von Kindern geträumt hatte, aber in Anbetracht des Teufelbraten vor mir musste ich nochmal nachdenken, welche Art von Familie ich gründen wollte.

»Willst du mal was Cooles sehen?«, fragte Noah, obwohl von Philipp gar keine Reaktion kam. Erst als Noah auf ein Knie fiel, direkt vor mir, und eine Samtschatulle aus seiner Jacke fischte, wurden Philipps Augen groß.

»Ehrlich jetzt?«, wollte ich wissen und war geneigt, ihn zu bitten, damit aufzuhören. Es war beileibe nicht der richtige Augenblick dafür. Zumal wir uns doch darauf geeinigt hatten, einen Gang zurückzuschalten. Er hörte wohl nie auf mich.

»Alessandra«, sagte Noah in altbekannter Manier und hielt herausfordernd das rote Schächtelchen vor meine Nase. »Du weißt, dass ich kein Mann der vielen Worte bin.«

»Sicher?«

Philipp drehte seinen Körper zu uns um uns stierte ärgerlich zu mir. »Psst!«

Verwirrt sah ich von ihm zu Noah, der sein fettes Grinsen nicht mehr unterdrücken konnte. »Aus diesem Grund werde ich mich jetzt kurz halten und dich nur fragen. Fragen, ob du meine Frau werden willst.«

Philipp gab mir keine Chance, angemessen zu reagieren. Er sprang auf, umarmte uns beide, was schwierig war, da wir so weit weg voneinander standen. Und Noah noch immer vor mir kniete, weswegen Philipp mit seiner Umarmung Noahs Gesicht an meinen Unterbauch drückte.

Seltsam.

»Herzlichen Glückwunsch!« Ein Mann mit Ziegenbart trat an uns heran und räusperte sich. »Es ist das erste Mal, dass so etwas in unserem Laden geschieht. Wie wundervoll!«

»Vielen Dank«, entgegnete Noah und stand auf, nur um mich sofort in eine seitliche Umarmung zu ziehen. Aus den Augenwinkeln heraus sah ich, dass alles an ihm strahlte. Niemals verlor er die Freude daran, mir Anträge zu machen. »Es war dann doch recht spontan.«

»Spontanität ist ein aussterbender Charakterzug.« Der Ziegenbartträger holte seine Hände aus den Hosentaschen und deutete mit beiden Armen durch den Laden. »Ihr Sohn kann sich gerne etwas von unseren Sachen aussuchen. Aufs Haus. Viel Spielzeug haben wir nicht, aber vielleicht wird er ja fündig.«

»Er ist nicht un...«, setzte ich an, weil mir der Blick der Verkäuferin noch gut im Gedächtnis eingebrannt war, aber Noah unterbrach mich umgehend und sein Tonfall gefiel mir nicht. Die Worte, die er sagte, ebenfalls nicht.

»Wo ist denn der Zwerg?«

99 MalWo Geschichten leben. Entdecke jetzt