91. - 98. Mal

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»Was meinst du bitte mit 'Du musst ausgefallener werden'?«
Dass sie mich Schwester genannt hatte, versuchte ich zu ignorieren. Nicht dass sie sich noch etwas darauf einbildete, dass es mich störte. Denn das tat es nicht. Nopes. Nein. Ganz sicher ... doch.

Sie überhaupt in meinem Haus zu haben, verursachte mir Magenschmerzen. Und die kamen auch sicher nicht von der großen Schüssel Eis, die ich vor ihrer Ankunft vertilgt hatte.

»Du wirst langweilig«, erwiderte sie und schaute sich genaustens um. Ich hasste sie noch viel mehr.

Mit verschränkten Armen näherte ich mich ihr, in ihrem blöden Sommerkleid, das ihr so hervorragend stand. »Hast du bessere Ideen?«

Sie strahlte, als sie sagte: »Ja.«

Ich hasste sie so, so, so sehr. Doch leider behielt sie damit erneut recht.

***

»Wieso sitzen wir ganz hinten?«, jammerte Nathalie neben mir und rutschte auf ihrem Platz hin und her. Doch ich konnte ihr keine Antwort geben, ich war zu sehr darauf fixiert, nach Noah Ausschau zu halten. Nicht dass ich mir wirklich gute Chancen ausrechnete, in diesem viel zu großen Saal bei diesem Dämmerlicht etwas von ihm zu sehen. Doch allein der Gedanke, dass er gleich hier drin sein würde, zur selben Zeit wie ich ...

»Ernsthaft, Alyssa, ich hasse es ganz hinten in derEcke.«

»Wir müssen hier aber sitzen«, entgegnete ich, woraufhin Nathalie wiederholt seufzte. »Ich will nicht gesehen werden.«

Nathalie öffnete den Mund, doch schloss ihn umgehend wieder. Vielleicht machte mein Blick ihr Angst. Vielleicht kannte sie mich gut genug, um zu wissen, dass jedes ihrer folgenden Worten gegen sie verwendet werden konnte.

Ich gab es wirklich nur ungern zu, aber Elaine auf meiner Seite zu haben, eröffnete mir ungeahnte Möglichkeiten.
Sie verfügte über Insiderwissen, das mir sonst keiner garantieren konnte. Zudem besaß sie ganz frische Ideen, auf die ich – zugegeben – nicht gekommen wäre. Oder zu denen mir einfach das benötigte Kleingeld gefehlt hätte.

»Lass mich nur machen«, hatte sie gesagt und ich erwartete immer noch den Haken an der Geschichte. Es wäre dumm von mir, ihr zu vertrauen. Ihre Hilfe anzunehmen war das Eine, mein Gehirn dabei auszuschalten das andere.

[Daniel an Aly]
»Wo bist du???«
»Stehe vor deinem Haus und niemand öffnet.«
»Es ist Mittwoch, wo ist Leila?«
»Alyssa?«

[Aly an Daniel]
»Ich bin im Kino. Melde mich später.«

J

a, ihn so abzuweisen war vermutlich nicht die feine, englische Art. Da ich aber keine Engländerin war und auch nicht vorhatte, eine zu werden, musste ich auf ihre stumpfe Etikette keine Rücksicht nehmen.

»Ich glaub, ich muss nochmal Pipi.«

Ich wandte meinen Kopf nach rechts zu Nathalie und runzelte die Stirn. Seit wann war meine Cousine denn solch ein Weichei geworden? Schon seit Tagen war sie empfindlich gegenüber allem. Der falsche Joghurt lag im Kühlschrank, die Lieblingsbuchreihe wurde eingestellt, eine Bluse passte nicht mehr richtig – alles Gründe für sie, übermäßig zu reagieren.

Ein wenig verstimmt wollte ich aufstehen und sie vorbeilassen, als die Lichter des Saals noch dunkler wurden und die Werbeanzeigen losgingen.

»Nat!«, raunte ich und sie blieb hocken. Zusammen ertrugen wir eine Werbung nach der anderen, futterten unseren halben Popcorn-Kübel leer und warteten. Nicht einmal ich wusste, wann der Trailer gespielt wurde. Ich hatte lediglich die Datei an eine Mailadresse geschickt und das war es gewesen, den Rest hatte Elaine erledigt.

Wenn sie mich verarscht hatte und mich nur erledigen wollte, würde ich ihr –

Genau in diesem Moment startete »You give me something« von James Morrison. Mein Herzschlag beruhigte sich zeitgleich mit dem Starten der Melodie. Wer hätte gedacht, dass Elaine ihr Wort hielt ...

»Mein liebster Schatz«

prangte fett auf dem Bildschirm, zwar ein wenig verpixelt, aber ich war eben kein Technik-Genie. Die richtige Auflösung zu finden war nicht einfach.

»Wir beide sind zusammen schon durch Dick und Dünn gegangen.

Wir haben Riesen besiegt und Zwerge gehütet.

Helden gerettet und Bösewichte bekämpft.

In dir habe ich meinen Prinzen gefunden, mein Endgoal, meinen Schatz.

Deswegen frage ich dich jetzt,

vor all diesen im Saal Anwesenden,

möchtest du mein Ehemann werden,

durch alle Gezeiten,

in allen Dimensionen,

auf allen Planeten,

durch Frieden und Krieg,

Schönheit und Verderben,

Freiheit und Gefangenschaft?«

Der Text war grottig, ich weiß. Aber das einzige, was ich in so schneller Zeit zustande bekommen hatte. Einige Menschen im Saal hatten schon ihren Zuspruch verlauten lassen, während Satz für Satz langsam eingeblendet wurde.

Es waren die längsten fünf Minuten meines Lebens, hier zu sitzen, mich so klein wie möglich zu machen und Nathalie neben mir schniefen zu hören.
Herrje, sie war wirklich verweichlicht.

»Mein Noah.

Willst du?

Deine A.

#99Mal«

erschien noch auf dem Bildschirm und blieb dort einen Moment lang stehen. Schnell machte ich ein Foto davon, ehe ich mich wieder auf meinem Stuhl kleinmachte.
Vermutlich sah Noah sich gerade um, um herauszufinden, ob ic hmit ihm hier drin saß. Was die Nervosität in meinem Magen gleich wieder anwachsen ließ.

So nah war ich ihm einfach schon ewig nicht mehr gekommen. Wenn ich wollte, könnte ich einfach aufstehen und nach ihm rufen. Wir könnten uns versöhnen. Es könnte alles wieder so werden, wie früher. Oder ich könnte einfach nur aufstehen, er würde mich finden, ganz sicher. Ich könnte auch am Ende des Films am Eingang auf ihn warten. Ihm eine Nachricht schreiben. Ich könnte.

Nichts davon tat ich. Nathalie und ich sahen uns den Film an und waren eine der Ersten, die hinausrannten. Nicht zum ersten Mal war ich meiner Cousine dankbar, dass sie das alles mit mir durchstand. Dass sie mich in den Arm nahmund mich weinen ließ, als wir uns auf den Weg zum Auto machten. Dass sie mich schweigen ließ, als Worte nicht ausreichten, um meine Gedanken zu artikulieren. Dass sie mich sein ließ, wie ich gerade wollte und meine teils abgefahrenen Ideen allesamt unterstützte.

Ich wäre niemals ein halb so okayer Mensch, wenn ich nicht Nathalie gehabt hätte. Selbst wenn all das, alle meine Aktionen für Noah, uns nicht wieder zusammenbrachten, so hatte ich dennoch sie. Meine Familie.

99 MalWo Geschichten leben. Entdecke jetzt