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Der Bass dröhnte. Was kein Wunder war, immerhin war es Silvester, der Club war rappelvoll und die Gäste schon angetrunken. Mein Herz wummerte im Takt mit, beflügelte meine Stimmung, meinen Verstand. Es schien fast so, als wäre ich in einer anderen Welt gelandet, wo keine Gedanken herrschten, es keine Sorgen oder Probleme gab. Es gab nur mich und die Musik. Kein Platz für etwas anderes.

»Aly.«

Es herrschte ein komplettes Vakuum um mich herum. Ich war umgeben von Allem und Nichts. Es gab nur das stetige Hämmern, den Geruch anderer Menschen, das Gefühl fremder Körper an meinem. Ich war eins mit der Masse, was ich ja sonst verabscheute. Jetzt jedoch gab es mir ein Gefühl von ... Unabhängigkeit. Ich war jung. Ich war ...

»Himmel, Alyssa!«, brüllte Noah in mein Ohr und fasste mich am Ellbogen. »Bist du taub?«

»Was ist los?«, fragte ich lachend im Gegenzug und hob die Arme, als ein neues Lied begann. »Tanz mit mir!«

»Wir sind nicht einmal eine halbe Stunde hier und du bist betrunken?« Noah ließ mich nicht los, viel eher zerrte er mich beiseite, an den Rand der Tanzfläche, wo noch immer der Bass hämmerte, mir aber Luft zum Atmen gab.

»Ich bin nicht betrunken«, erklärte ich schnaufend und meinte es so. Seitdem ich im Lotus angekommen waren, hatte ich keinen Tropfen zu mir genommen. Mich dafür aber einfach in die Menge gestürzt und das Leben genossen. Das war es doch, was man an Silvester tat. Man ließ Altlasten hinter sich. Genau das machte ich gerade.

»Ich glaube, ich habe dich noch nie so ausgelassen erlebt.« Auch wenn Noah nicht mehr besorgt aussah, blieb ein Restfunken Zweifel in seinem Blick.

Ich kannte seine großer-Bruder-Masche. Meistens hörte ich auf ihn und war das brave Mädchen, das alle in mir kannten. Aber an anderen Tagen ...

Ich fuhr mir durch die Haare, strich sie beiseite und lachte laut. Keine Ahnung, wo Kai und Ari und dessen Freundin abgeblieben waren. Wir hatten gemeinsam den Club betreten und als ich Daniel entdeckt hatte, war ich auf ihn zu, nur um von der tanzenden Menge verschluckt zu werden. Seither tanzte ich.

»Dir geht es auch wirklich gut?«, hinterfragte Noah erneut und ich stöhnte auf.

»Noah. Es ist der 31. Dezember, verstehst du das? Hab Spaß und tanz mit mir!«

»Eigentlich hatte ich gehofft, dass diese Ehre mir zuteil wird«, ertönte Daniels Stimme in meinem Rücken. Ich wollte mich grinsend umdrehen, doch er stoppte mich, um mir einen Kuss auf die nackten Schultern zu geben. »Ich hab dich gesehen.«

»Ich weiß.«

Vielleicht war das ein Grund gewesen, wieso ich so aufgedreht war. Ich hatte Daniels Blicke gespürt und mehr als einmal bemerkt. Während er mit Kellnern und Barkeepern sprach, mit dem DJ etwas klärte und immer mal wieder abtauchte, hatte ich dennoch seine Anwesenheit bemerkt. Er hatte mir geraten, dass ich meine wilde Seite herauslassen sollte. Genau das tat ich jetzt.

Es gab keinen Grund mehr, traurig zu sein. Mein Leben war umwerfend und das musste ausgiebig gefeiert werden.

»Der berühmte Daniel«, brachte Noah sich in das Gespräch ein und hob seinen Arm für einen Handschlag. Mir war noch nie aufgefallen, dass Noah so breit gebaut war. Es hatte immer einer Weste bedurft, ehe ich zu diesem Anblick kommen konnte.

»Daniel«, sagte ich lächelnd und drehte sich zu ihm um. »Das ist Noah, mein bester Freund.«

»Der zum 45. Mal Verlobte«, erwiderte Daniel und schlug ein.

»46 Mal.« Noah deutete an seine Ohren und seinen Mund, was ich zu interpretieren wusste. Es war ihm noch immer zu laut und er holte sich etwas zu trinken.

Ich ergriff Daniels Hand und zog ihn auf die Tanzfläche zurück, was diesen zu überraschen schien. Doch er folgte mir kommentarlos, wirbelte mich herum, drückte mich an sich. Ich konnte nicht behaupten, dass ich schon jemals so viel Spaß an einem Ausgeh-Abend gehabt hatte und das nach nur einer Stunde. Ich lachte ausgiebig, drehte mich, ließ meine Haare fliegen und stahl Küsse von Daniel.

»Habe ich dir schon gratuliert?«, fragte ich eine Ewigkeit später, als wir eine Pause machten und in einer Sitzecke landeten, die Daniel für mich und meine Freunde reserviert hatten. Ari und seine Freundin Michelle saßen dort, knutschend und fummelnd. Auch sie waren frisch verliebt. Musste das schön sein.

»Ich schätze nicht.« Daniels Lippen kräuselten sich, als ich mich auf die Zehenspitzen stellte, um ihn zu küssen. Als seine Hände unter mein Top glitten, meine erhitzte Haut berührte, ließ ich von ihm ab.

»Happy Birthday«, flüsterte ich und setzte mich auf die Bank, direkt neben Michelle. Von Noah und Kai war nichts zu sehen, was bedeuten musste, dass auch sie auf der Tanzfläche waren.

»Es sind noch vier Minuten bis Mitternacht«, raunte Ari kurze Zeit später und erhob sich, um im Raum umherzusehen. »Wo sind die anderen? Was nützt uns diese Party, wenn wir nicht mit unseren Freunden anstoßen?«

»Ich sehe Noah!«, bemerkte ich und winkte meinen besten Freund heran. Er legte mir sofort einen Arm um die Hüfte, entschuldigte sich zuvor bei Daniel, für das »Stehlen seiner Freundin«, und hob ein Champagner-Glas, das er sich von einem umherlaufenden Kellner geschnappt hatte, in die Höhe.

Ich hätte mir das Feiern nicht schöner vorstellen können. Zum ersten Mal seit Monaten ließ ich los. Dachte nicht an die Karte im Briefkasten, an die Nachrichten, an die Vergangenheit oder an die Zukunft.

Alles, woran ich in diesem Moment denken konnte, war das Jetzt und Hier. Die Gegenwart. Meine Gegenwart. Ich wollte dieses neue, noch so frische Jahr nutzen und das auf positive Weise. Ich würde meinen verdammten Abschluss machen, mir einen Job suchen und mit Nathalies Eltern reden. Ich war kein Kind mehr, ich konnte mich nicht mehr wie eines benehmen. Und vielleicht sah das neue Jahr auch eine Liebschaft vor, die von Dauer war.

»Irgendwelche Vorsätze fürs neue Jahr?«, fragte Noah, als hätte er meine Gedanken gelesen. Vermutlich konnte er das tatsächlich.

Grinsend nahm ich mein eigenes Glas zur Hand. Kai erschien bei uns, im Arm mit einer Brünetten, die ihm den ganzen Abend über schöne Augen gemacht hatte. Im Vorbeigehen winkte ich Skip zu, der die Daumen hob und zwinkerte, ehe er in der Menge unterging. Daniel sah seinem besten Freund nach, küsste mich und auch er verschwand. Was ich nicht einmal schlimm fand.

»Hauptsache dieses Jahr beinhaltet kein weiteres Feuer bei dir«, lachte Ari derweil und sah Noah an.

Auch ich sah Noah an, wollte eine Frage formulieren, ihn fragen, was Ari damit meinte, als die Leute um mich herum mit dem Countdown begannen.

»Zehn
»Feuer?«, schrie ich dennoch.

»Neun! - Acht! –Sieben! – Sechs!«
»Unwichtig.«

»Fünf! – Vier!– Drei!«
»Sag das nicht, Noah. Wa...«

»Zwei! – Eins! Prost Neujahr!«

Um uns herum brach die Hölle los. Gläser klirrten, das Stroboskoplicht erreichte seinen Höhepunkt, die Musik schwoll an und die Menge stürmte hinaus oder hoch zur öffentlichen Terrasse, von der Daniel mir erzählt hatte. Von dort aus hatten sie einen guten Ausblick auf die Stadt. Da ich Feuerwerkskörper nicht ausstehen konnte, blieb Noah weiter an meiner Seite, selbst als seine Freunde hinausdrängten. Gentleman durch und durch.

Das war der Moment, als ich eine Blondine am anderen Ende des Raumes sah, die mir vertraut vorkam. Viel zu vertraut.

»Aly?«, rief Noah mir hinterher und folgte mir. Wie immer. Noah würde mir immer folgen.

99 MalWo Geschichten leben. Entdecke jetzt