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Der Alltag pausierte nicht. Mein Wecker klingelte jeden Morgen unbarmherzig, egal wie lange ich am Vorabend noch versucht hatte, den Schlaf hinauszuzögern. Ich las viel, schlief erschöpft ein und wurde nachts von Monstern verfolgt, die blonde Haare hatten, mich in Ketten legten und gefangen hielten. Bis ich aufwachte, dem Alltag nachging und sich der Rhythmus wiederholte.

Doch Tag für Tag ging es mir besser. Dabei konnte ich mir nicht einmal erklären, wieso. Vielleicht lag es an den dauerhaften Sonnenstrahlen des Frühlings, die die Welt in ein anderes Licht tauchten. Vielleicht war es auch die Gewissheit, dass ich Hilfe bekommen würde. So oder so konnte ich wieder etwas befreiter atmen und das war ein Fortschritt.

[Aly an Noah]
»Stehe am H&M. Wo bist du?«


Ich hatte Noah gefragt, ob er mit einkaufen gehen wollte. Für die Schule benötigte ich einige Bastelartikel und wollte einen längst überfälligen Besuch im Buchladen meines Vertrauens nachholen. Da Noah und ich uns diese Leidenschaft teilten, bat ich ihn, mitzukommen.

[Noah an Aly]
»Ich bin da. Wo bist du? ;)«

Ich hob den Kopf und strich mir einige Haarsträhnen aus dem Gesicht, um einen besseren Blick auf die Menschenmassen zu haben. Da es tagsüber war, fühlte ich mich in der Menge sicher. Sicher wie die vergangenen fünf Jahre.
Eigentlich wusste ich, dass mir keine direkte Gefahr drohte. Alessandra war keine Mörderin, keine gewalttätige Knastbraut. Und selbst wenn – umsonst hatte ich nicht vor all den Jahren einen Selbstverteidigungskurs belegt.

[Aly an Noah]
»Ehrlich jetzt :D Wo bist du? Ich kann dich nicht sehen.«

[Noah an Aly]
»Vielleicht bemerkst du meinen Puschelschwanz ;)«


»Deinen was?«, murmelte ich und sah erneut von meinem Handy auf. Ehe ich dazu kam, eine Antwort zu tippen, streifte mein Blickfeld etwas rosarotes. Flauschiges. Mit Ohren und einem Körbchen und einem Gesicht, das aus all dem Stoff herausblitzte.

»Valentina!«, brüllte Noah. Eingekleidet in ein Hasenkostüm, passend mit Osterkörbchen und Hasenzähnen. »Meine Geliebte!«

Das war mein Noah. Mein bester Freund. In einem Hasenkostüm.

Ich konnte mir ein Kichern nicht verkneifen und hob die Hand an den Mund, um es mit einem Husten zu übertünchen. Er sah schwachsinnig aus, wie er mit dem Kostüm auf mich zuhoppelte und dabei den Passanten Flugblätter in die Hand drückte.

Entweder war das einer seiner neuen Haushilfsjobs für seine Eltern – immerhin ging es mit riesigen Schritten auf Ostern zu – oder Noah hatte eine neue Art entdeckt, schwachsinnig zu sein.

»Was tust du da?«, fragte ich und bemerkte überrascht den fröhlichen Klang meiner Stimme.

»Valentina, meine unbändige Liebe«, wiederholte er und blieb vor mir stehen. Die falschen Hasenzähne holte er aus dem Mund und legte sie achtlos in seinen Bastkorb, den er neben sich auf den Boden plumpsen ließ. »Ich dachte, ich muss mir besondere Mühe für ein besonderes Mädchen geben.«

Lächelnd steckte ich mein Handy in die Handtasche und schaute Noah aufmerksam an. Was immer er vorhatte, es versprach, Spaß zu machen. Unser letzter Antrag war noch gar nicht so lange her – zwischen uns hatte ein gefüllter McDonalds gestanden.
Ich hatte zur Schule gemusst, er zur Arbeit. Der Geschäftsführer hatte uns beiden einen Kaffee geschenkt und uns gebeten, das Lokal zu verlassen, da wir scheinbar das Morgengeschäft störten. Am selben Tag hatte er mir gleich zwei Anträge hintereinander auf der Kirmes gemacht. Es war ein Rekord, drei Anträge an einem Tag. Scheinbar hatte Noah wirklich den Wunsch, die 100 vollzubekommen und das am besten noch in seinen Semesterferien.

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