-

4.4K 409 57
                                    

»Also, Liebling«, säuselte ich nach zu viel Sekt, zu viel Wein und zu wenig Essen. War es schlimmer oder besser, dass ich meinen Fehler erkannte?

Viele der Gäste waren bereits gegangen, es musste schon nach Mitternacht sein und die Kellner stellten bereits die Stühle auf die Tische. Wir saßen noch immer hier. Tranken. Tranken. Tranken. Tranken ...

»Ja, Ophelia?«

»Es ist unfair.« Ich unterdrückte einen Schluckauf. »Dass du so wenig getrunken hast.«

Das Lachen von Noah schallte durch den gesamten Raum und ich grinste mit. Kai und Ari saßen irgendwo in der Ecke und spielten Karten mit einer Küchenkraft, die sie beide süß fanden. Es war rundum ein gelungener Abend, den ich am liebsten für immer fortsetzen wollte. Die Zeit anhalten. In diesem Moment. Jetzt. Gerade. In diesem Augenblick. Für immer.

»Ich kann mich beherrschen«, erklärte Noah und winkte jemanden zu. Gerade als ich mich umsah, kam ein Mann auf uns zu, der mir entfernt bekannt vorkam. Irgendwie. Ich kannte ihn. Bis ich ihn als den Kellner wiedererkannte, der uns bedient hatte. Wusste ja, dass ich ihn kannte.

Kichernd nahm ich mir die Weinflasche vom Tisch und schenkte mir selbst den Rest in ihr Glas. Immerhin sollte das gute Gesöff nicht verkommen.

Ich liebte Wein. Und er war gesund. Aus Trauben gemacht. Und war es nicht die Empfehlung der Ärzte, dass man jeden Tag Obst zu sich nahm? Das hatten zumindest Frauke und Thomasimmer gesagt. Einmal Obst am Tag, einmal Gemüse. Iss den Teller leer. Und wenn du kotzen musst, isst du ...

»Aly«, riss Noah mich aus meinen Gedanken und musterte mich. Die Falte auf seiner Stirn stach hervor. Er war besorgt. Um mich? Wieso? Mir ging es doch hervorragend. Mit all dem Wein. Mit all dem Lachen. Mit all dem Wein.

»Was ist das?«, fragte ich und schielte auf die zwei Servierglocken auf dem Tisch. Nein. Eine. Es war nur eine. Noah hob das silberne Ding an und ein Fleischbällchen kam zum Vorschein. »Noch ein Fleischball? Was hast du nur mit diesen Dingern?«

Wieder lachte Noah und strich sich mit seiner freien Hand durch die Haare. Ich sollte ihn zum Friseur schleifen, es war eine Zumutung. Kein Wunder, dass er keine Freundin fand. Mit diesen Haaren. Und diesem süßen Lächeln.

»Du erinnerst dich vielleicht daran, dass wir Jungs vor 16 Jahren gegenüber von deinem Haus Fußball gespielt haben.«

»Klar.« Warum war meine Zunge so schwer ...

»Und anschließend hat deine Cousine uns hereingerufen. Du wolltest deinen Sieg feiern und hast Nat angefleht, deinen Lieblingsdisneyfilm aufzulegen.«

Susi und Strolch. Als ich sechs war, war das mein absoluter Lieblingsfilm. Damals konnte ich ihn auswendig mitsprechen. Schaute ihn öfter als sonst einen Film. Hat sich geändert. Wie alles andere.

»Das war genau heute vor 16 Jahren, Aly.« Noah griff über den Tisch nach meiner Hand. »Nathalie hat uns Fleischbällchen zum Abendessen gekocht. Und du hast darauf bestanden, dass wir einen aufheben, sollten streunende Hunde vorbeikommen, die Hunger haben.«

Ich wollte lachen. Nein, weinen. Oder doch lachen? Wie hieß das, wenn man sich freute und einem deshalb Tränen aus den Augen schossen, weil man sich so freute?

Dass Noah sich daran erinnerte ... An uns. An diesen Tag. Daher also das Essen. Dieser seltsame Aufzug. Und ich konnte es nicht genießen. Weil ich zu betrunken war und unpassend zu kichern anfing und nicht aufhören konnte.

Scheiße.
Scheiße scheiße scheiße.

»Na komm«, sagte Noah in die Stille hinein und stand auf. Hatte er einen Zwilling? Nein, es gab nur einen Noah. Nur einen ... von ihm. Wenigstens von ihm. »Ich bringe dich heim.«

99 MalWo Geschichten leben. Entdecke jetzt