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Noahs letzten Worte fielen mir wieder ein. »Elaine darf jetzt Angst haben, Alyssa. Denn sie hat eure beschissene Mutter hintergangen.«

»Moment«, hielt ich Emma auf, die ziemlich offensichtich so schnell wie möglich wieder verschwinden wollte. Was auch zu ihrem plötzlichen Auftauchen passte. Alles, was die beiden taten, war mysteriös und merkwürdig.

Von ihrem Erscheinen, zu der Art, zu reden über ihre Bewegungen. Sie waren beide verschwiegen und sehr darauf bedacht, nicht zu durchleuchten zu sein.

»Wer ist Elaine?«

»Was meinst du?«, fragte Emma und legte den Kopf etwas schief. Ich war vielleicht kein Experte in Mimiklesen, aber das war schon ziemlich offensichtlich.

Nathalie spiegelte die Verwirrung, auch wenn ihre echt zu sein schien. Nathalie konnte auch nicht wissen, was ich wusste.

Einzig Jack schien kein Interesse daran zu haben, mir etwas vorzumachen. »Sie ist deine Schwester.«

Meine Schwester.

Ich hatte eine Schwester. Elaine war meine Schwester.

Emma rollte mit den Augen, doch ich richtete sofort meine Aufmerksamkeit zurück auf Jack, der mir erzählte, dass Alessandra vor mir schon ein Kind gehabt hatte. Dass sie es bei Freunden gelassen hatte. Dass sie sich ihre Tochter geholt hatte, während ich vergessen wurde.

»Wir glauben, sie hat das Feuer in eurem Haus damals selbst gelegt.«

Eine Schwester.
Elaine war meine Schwester.
Meine Mutter hatte meinen Vater umgebracht.

Irgendwann waren wir von draußen in die Küche gewandert und ich leerte ein Wasserglas nach dem anderen. Auch wenn es mich nicht überraschen sollte, dass meine Mutter so ein abscheulicher Mensch war, so war es doch verletzend.

Sowohl für Elaine als auch für mich. Sie hatte uns beide im Stich gelassen, hatte uns beide verraten. Nur dass ich dort rausgekommen war, in ein Zuhause. Zu einem Ort, an dem ich geliebt wurde. So etwas hatte meine Schwester, so seltsam diese Formulieren auch war, nicht besessen.

Wir ließen Emma und Jack gehen. Nathalie stand neben mir, als unsere Bekannten die Einfahrt zu ihrem grünen Wagen hinunterliefen und der Stein in meinem Magen machte mir Probleme.

Was sollte ich jetzt tun?
Wie sollte ich jetzt verfahren?

Elaine war meine Schwester.

»Emma?«, hielt ich sie noch einmal zurück. »Wieso hast du High Heels an? Du sagtest, dass dein Bein verletzt ist und du Schmerzen hast, in hohen Schuhen zu laufen.«

Emma zuckte mit den Schultern, warf einen Blick zu Jack, der an der offenen Fahrertür wartete und weiterhin finster dreinblickte. Irgendwie bewunderte ich seine ruhige Art mittlerweile. Das Ying zu Emmas Yang zu sein, war kein leichter Job.

»Du hattest recht, Alyssa. Manche Dinge können sich nicht verändern, nicht einmal mit der Zeit. Manche dieser Dinge sind es wert, Schmerzen auszuhalten.«

Und einfach so wurde das ungute Gefühl in meinem Magen durch etwas anderes ersetzt. Ich winkte Emma zum Abschied, sah dem Wagen hinterher und als Nathalie die Tür schloss, stellte ich ein Bein dazwischen. Ohne noch einmal darüber nachzudenken, zerriss ich den Brief meiner Mutter in winzige Teile und warf ihn vorne direkt in die Papiertonne.

Das war die Vergangenheit und die hatte keinen Platz mehr in meinem Leben.

***

Grundsätzlich war die Idee verrückt, das war mir sehr wohl bewusst, als ich neben Carla zum Stehen kam. Es war vollkommen absurd und würde vermutlich nicht funktionieren, geschweige denn überhaupt Ergebnisse erzielen. Aber wenn ich eines in den letzten Tagen gelernt hatte, dann dass Hoffnung einen immer weiterbrachte als die Angst vor dem Versagen.

»Das ist bescheuert«, bekräftigte Carla meine Befürchtung und zog ihre Jacke fester um sich. Es war kalt draußen, dafür dass morgen der Sommer offiziell starten sollte. Die Sonne war auch nur entfernt am Horizont zwischen den Häusern zu erkennen und die Straßenlaternen erleuchteten den Gehweg unter unseren Füßen.

Dennoch grinste ich verschmitzt und hob meine Tasche über den Kopf. Ich holte einige Kreidestifte hervor und begab mich in eine hockende Position. Carla verharrte stehend und blickte sich alarmiert nach allen Seiten um. Es war ihr anzusehen, wie unwohl sie sich dabei fühlte, obwohl sie nichts Illegales vorhatten. Nur ein paar Zeichnungen auf dem Boden. Vor Noahs Wohnhaus. Was war schon dabei?

»Er hat ziemlich deutlich gesagt, dass er dich nie mehr wiedersehen will.«

Ich legte den Kopf in den Nacken und sah zu Carla hoch. »Das ist der springende Punkt, meine liebe beste Freundin. Er wird mich ja auch nicht sehen. Nur die Anträge.«

Es war vermutlich abwegig, dass Noah darauf reagieren würde, aber es war meine einzige Chance. Noah ließ nicht mit sich reden, sodass ich nicht einfach auftauchen konnte. Irgendwie musste ich jedoch Kontakt aufnehmen. Das hier war die einfachste Lösung.

Ich schrieb nicht viel.
»Noah, willst du mich heiraten? A.« Mit dem modernen und mediengetreuen Hashtag #99Mal. Vermutlich würde ihm das am meisten irritieren, was ja auch mein Plan war. Doch ich hatte immer vorgehabt die 100 vollzubekommen. Es bei 99 Mal zu belassen, war Carlas Idee gewesen, da es bei Weitem besser klang.

»Eins steht fest«, murmelte Carla, sobald ich fertig war und mir den Staub von der Hose wischen wollte. Nur dass ich damit erst recht Kreideflecken hinterließ.
»Wenn eure Geschichte verfilmt wird, möchte ich von Jennifer Lawrence gespielt werden.«

Lachend hakte ich mich bei meiner besten Freundin ein, lehnte meinen Kopf an Carlas Schulter und trat den Weg Richtung Bus an. Ich hatte noch viel zu tun und der Sommer fing gerade erst an.

99 MalWo Geschichten leben. Entdecke jetzt