52. Mal

2.2K 202 12
                                    

Daniel verbrachte die Nacht bei mir im Haus, was ich eigenartig und gleichzeitig traumhaft fand. Es war zweifellos seltsam, Daniel in meinem Zimmer zu haben, ihm die geheime Bibliothek im Keller zu zeigen und am Morgen mit ihm zusammen zu frühstücken.

Und es war genauso traumhaft, eine Nacht lang durchzuschlafen. Etwas das schon seit Wochen nicht mehr vorgekommen war. Was daran lag, dass ich nicht von den Gedanken an Alessandra loskam. Sah sie im Schlaf, hörte ihr hämisches Lachen, spürte ihren festen Griff um die Beine. All die Albträume, die ich bisher immer hatte, verblassten im Angesicht ihrer jetzigen Träumereien.

»Es ist doch okay, wenn Skip auch kommt?«, murmelte Daniel verschlafen an meinem Ohr, als ich die Kaffeemaschine neu programmierte. Ich war versucht ein neues Profil anzulegen, mit Daniel als Interface. Noah besaß eines, Carla und Yvette. Im letzten Moment besann ich mich jedoch eines anderen.

Wir vertrödelten viel Zeit, ehe ich mich in meine Kostümierung warf und Daniel herzhaft zu lachen anfing. Dabei hatte ich doch genau das angezogen, was er immer in mir sah.
Ein Schneewittchen der Neuzeit, mit einem gelb-roten Kleid, einem blauen Cape und den rot geschminkten Lippen. Da ich geahnt hatte, dass Daniel Probleme haben würde, ein Kostüm zu besorgen, hatten Carla und ich vorgesorgt.

»Ein Pärchenkostüm?«, war hierzu der erste Kommentar von Skip, als wir vor seinem Wohnhaus anhielten, um ihn abzuholen.

Passend zu Schneewittchen hatte Daniel ein Prince Charming Kostüm erhalten, mitsamt falschem Schwert. Nachdem Skip eine weitere Minute damit verbracht hatte, über uns beiden zu lachen, war er zu uns ins Auto gestiegen.

Die Innenstadt war rundherum abgesperrt, sodass wir den letzten Wegrest zu Fuß überwinden mussten. Ich schrieb währenddessen mit Carla, um auf dem Laufenden zu bleiben. Immerhin kamen wir gut eine Stunde später als ursprünglich vereinbart und der Anfang des Faschingsumzuges war schon an unserer Position vorbei.

[Carla an Aly]
»Wir brechen gleich auf. Ist Daniel dabei? *.*«

[Aly an Carla]
»Lass dich überraschen...? :P«

[Carla an Aly]
»Also kommt er *_____*«

»Da ist jemand schon sehr gespannt, dich zu treffen«, sagte ich an Daniel gerichtet und hakte mich bei ihm ein. Fest umschlungen kamen wir an der Kneipe an, die für das billige Bier und die freundlichen Besitzer bekannt war. Da es einige Laufminuten von der Strecke des Umzuges entfernt war, war zur Faschingszeit selten Hochkonjunktur, weswegen Noah gerne mit seinen Freunden dort einfiel und jedes Jahr versuchte, mich dazu zu überreden, mit ihm zu kommen.

»Einen Zehner, dass es heute ein Kerl wird.«

Ich sah zu Daniel hoch und runzelte fragend die Stirn. Skip grinste seinen besten Freund an und ergriff Daniels dargebotene Hand.

»Verdammt, vermutlich hast du recht. Sie sind an Karneval immer so freizügig.«

»Wettet ihr gerade darüber, welches Geschlecht Skip abschleppt?«, rätselte ich und blinzelte einige Male. »Das ist schräg.«

»Nicht schräger als die vielen Heiratsanträge«, antwortete Skip und formte gleich darauf ein »oh« mit seinem Mund. »Das hätte ich jetzt nicht sagen sollen, was?«

Bevor Daniel etwas zu seiner Verteidigung sagen konnte, schüttelte ich den Kopf und befreite mich aus der Umarmung. Es war mir nicht so wichtig, dass das ein Geheimnis blieb. Daniel vertraute Skip, das wusste ich. Ich mochte ihn ja selbst, aber eine kleine Stimme in meinem Innern flüsterte mir zu, dass sich nur auf solch ein Zeichen gewartet hatte.

Wenn Daniel nicht einmal so ein kleines Geheimnis für sich behalten konnte, wie sollte ich ihm die wichtigen Dinge anvertrauen können?

»Wo sind denn deine sieben Zwerge?«, grummelte mit einem Mal eine Stimme hinter mir und erschrocken fuhr ich zusammen. Ich hätte Noah nicht erkannt, wenn er nicht gesprochen hätte. Sein Gesicht war von einer schwarzen Maske verdeckt, hinter ihm wehte ein ebenso schwarzer Umhang und an sich war er komplett in schwarz gekleidet.

»Batman!«, rief Skip sofort aus und öffnete breit die Arme, um auf Noah zu zugehen. »Geiles Kostüm, Mann! Besonders die Strumpfhose gefällt mir.«

Lachend glitt ich im letzten Moment vor der Umarmung dazwischen und rettete Noah so vor einer für ihn unangenehmen Begegnung. Es wäre nicht das erste Mal, dass Skip vollen Handeinsatz zeigte. Ich drehte mich halb von Skip weg, um Noah anzusehen.

»Skip, das ist mein bester Freund Noah. Und Noah, das sind Skip und Daniel.«

»Prince Charming, es ist mir ein Vergnügen«, erklärte Noah mit verstellter Stimme, was ihn gleich darauf husten ließ. Als er zu einer Verbeugung ansetzte, stützte ich seinen Oberkörper ab. Ich roch den Schnaps an ihm und unterdrückte ein kleines Seufzen. Es war nicht einmal Nachmittag und Noah hatte es übertrieben – wo war mein vorsichtiger Freund hin verschwunden, der höchst selten einen zuviel trank?

»Wo ist denn Elaine?«, fragte ich, weil weder Daniel noch Skip etwas sagten. Das Schweigen vor der Kneipe wurde nur durch die laute Musik aus dem Innern und den Passanten durchbrochen und allmählich wurde es kalt.

Blödes Kostüm.

»Konnte heute nicht.« Noah nahm seinen Blick nicht von Daniel, lächelte und legte einen Arm um meine Schulter. »Kommt, Prinzessin, ich führe dich zu den anderen.«

Da es unnötig gewesen wäre, zu protestieren, streckte ich blindlings meine Hand nach hinten aus, damit Daniel sie ergreifen konnte. Was er auch tat und mir somit auf dem Fuße folgte. Augenblicklich umgab uns eine riesige Traube an Menschen, die neben der Eingangstür kauerten und eine Frau an der Karaokemaschine anfeuerten.

Nach den Vorstellungen bestellte Skip auf seine Kosten eine neue Runde und die Gruppe prostete ihm zu. Ich hatte es mir definitiv schlimmer ausgemalt.

»Und als was bist du verkleidet?«, raunte Ari an Skip gerichtet und schob seine Augenklappe hoch. Da er als moderne Version von Jack Sparrow verkleidet war, hingen an seinem sonst eher haarlosem Kopf Rastazöpfe herunter, die sich fortwährend an dem Dreizack seiner Freundin Irina verhedderten, was zu einigen guten Lachern führte.

»Sieht man das nicht?«, fragte der einzige Mensch in meinem Freundeskreis, der nachvollziehen konnte, wie seltsam es war, wenn man adoptiert war. Auch wenn er Glück hatte und schon als Baby in eine Familie kam, die ihn liebte und akzeptierte wie er war. Ich wusste nicht genau wieso, aber ich wollte, dass meine »alten« Freunde Skip akzeptierten.

Lachend schlug Tristan, ein Teamkollegevon Ari, ihm auf die Schulter. »Nein, ich sehe das nicht. Jungs?«

Einstimmiges Gröhlen hallte durch den separaten Bereich der Kneipe, den Noah vorsorglich reserviert hatte. Insgesamt waren wir vielleicht zwanzig Leute, machten aber Dreck und Lärm für 50. Was Daniel nicht zu gefallen schien, so missmutig wie er am Tisch saß und sich weigerte, auch nur an einem Bier zu riechen. Ich wusste ja, dass er am nächsten Morgen arbeiten musste, aber seine miese Laune gefiel mir dennoch nicht.

Ich selbst war ja auch nur mit dabei, weil meine beste Freundin mich praktisch gezwungen hatte. Wie sollte er den Abend durchhalten, wenn ein kleineres Grüppchen später in mein Haus umzog und sich die Party bis in die Morgenstunden zog? Irgendwie war ich bessere Laune von ihm gewohnt.

»Ich bin der schwarze Spiderman.«

Zum ersten Mal seit unserer Ankunft verstummte die Runde und alle starrten Skips »Kostümierung« an. Er trug Jeans, einen Pullover und eine schwarze Jacke, die auf irgendeiner der Bänke abgelegt worden war. Nichts an Skip ließ auf Peter Parker schließen.

»Ohne seinen Anzug, meine ich«, erklärte Skip weiter und rollte lachend mit den Augen. »Ich bin Undercover hier. Ihr Banausen.«

Noah war der Erste, der wieder zu Wort kam und mit Skip lachte. »Geile Idee, muss ich dir lassen.«

Obwohl ich nach wie vor nicht wusste, worauf dieses dringende Bedürfnis, dass Skip sich gut integrierte, begründet war, atmete ich erleichtert auf. Vielleicht wollte ich nur, dass meine Freunde alle miteinander auskamen. Damit dieses Treffen nicht ein Einzelfall blieb.

99 MalWo Geschichten leben. Entdecke jetzt