82. - 90. Mal

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[A/N: Frohe Ostern, Herzchen ❤🐥]


Meinen Zustand als »aufgeregt« zu titulieren, war noch eine Untertreibung. Natürlich hatte ich schon einmal ein Abschlusszeugnis erhalten, aber das war nur ein Abgangszeugnis vom Gymnasium gewesen. Damals war ich direkt auf diese Schule gewechselt und das war auch kein wirkliches Abschlusszeugnis gewesen. Jetzt folgte ... Nichts. Das große Ungewisse. Zwar gab es einen vagen Plan in meinem Kopf, die Zukunft betreffend, aber das war alles noch so ungewiss.

Zum ersten Mal in meinem Leben wusste ich nicht weiter und es machte mir weniger Angst als erwartet.

»Beängstigend, nicht wahr?«

Wie aus dem Nichts war Emma Percen vor einigen Minuten neben mir aufgetaucht und zertrat am Boden gerade eine Zigarette. Sie stützte sich auf ihrem Gehstock auf, trug jedoch Schuhe mit kleinem Absatz.

Ich musste lächeln. »Es überrascht mich nicht, dass du doch nicht weg bist.«

Emma schüttelte den Kopf, auch wenn ihr Gesicht unter der riesigen Sonnenbrille ernst aussah. Die blauen Haare trug sie in Locken offen und auch wenn ich ihn nicht sah, vermutete ich, dass Jack nicht weit sein konnte.

»Ich hab ein paar Fäden abgerissen. Und dann kam mir deine Abschlussfeier ganz recht.«

Nickend wandte ich meine Aufmerksamkeit wieder den lachenden Schülern unter der Empore zu, auf der wir gerade standen. Keiner war sonst dort oben, die meisten waren entweder unten oder bereiteten sich auf die offizielle Feier vor.

Jetzt, am Morgen, würde die Schulleitung etwas sagen, die Zeugnisse wurden verteilt und der richtige Ball fand am Abend statt. Aus diesem Grund war auch Daniel nicht da. Nathalie saß vermutlich schon in der überhitzten Aula und verfluchte die Nichtexistenz einer Klimaanlage.

Es war wirklich ein Abschluss. Mein erster richtiger. Was mich nervös machte. Enden mochte ich immer noch nicht.

»Ich hab deine Anträge gesehen, Kleines.« Emma lachte leise. »Nette Geste. Ich nehme mal an, der Zusammenschnitt all dieser Anträge wird die Grundlage für Antrag Nummer 100?«

Ich war nicht einmal überrascht, dass Emma meinen Plan durchschaute. Sie war ja seit jeher gut darin, die versteckten Motive von Menschen zu durchleuchten. Nur deswegen hatte sie Alessandra Senior durchschauen können, um meine Retterin zu werden.

»Weißt du was ich besonders schrecklich an heute finde?«, fragte ich rhetorisch, legte meine Hände auf die Brüstung und ließ den Blick über meine Mitschüler wandern. Menschen, die ich kaum kannte und nie hatte kennenlernen wollen. Wozu auch? Ich hatte immer alles gehabt, was ich brauchte.

»Dass es viel zu heiß für Anfang Juli ist?«

»Es ist ein Ende. Ich hasse es, wenn etwas endet. Sie sind so ... endgültig. Und abschließend. Und beängstigend.«

Wieder lachte Emma leise, drehte sich um und streifte mit ihrem Handrücken meine Wange. Es war eine seltsame Geste, zu mütterlich für Emma.
»Du bist blonder als ichdachte. Kennst du nicht den Spruch 'Jedes Ende ist ein neuer Anfang'?«

»Ja, aber ...«

»Nichts aber«, unterbrach Emma mich sofort und ließ mich nicht noch einmal zu Wort kommen. »Du hasst Enden, das kann ich verstehen, ich verabscheue sie auch. Oder zumindest tat ich das.
Bis ich realisiert habe, dass nichts wirklich endet. Deine Schullaufbahn ist vorbei, na und? Dafür gehst du jetzt studieren. Und wenn das vorbei ist, gehst du weiter. Es sind keine Abschlüsse, es sind nur Treppenstufen zum Ziel. Level für Level, immer höher. Unendlich. Wenn du dir das klar machst, wirst du nie wieder Angst davor haben, mit etwas anzufangen oder etwas zu beenden.«

Zunächst wusste ich nicht, was ich darauf erwidern sollte. Dann kam mir alles viel zu dumm vor, im Vergleich zu dieser Weisheit. Schlussendlich beließ ich es beim Schweigen, nahm Emmas Hand und drückte sie, ehe ich kommentarlos zum Treppenhaus lief, um mich in die Reihe der Abschlussschüler zu mischen.

***

Weil ich nie zur Ruhe kommen konnte, schaffte ich es sogar an diesem Tag, zwei Anträge zu erledigen, ohne auch nur in Zeitdruck zu geraten. Zum einen erreichte Noah ein singendes Telegramm, von dem ich eine SMS geschickt bekam, dass Noah es erhalten hatte.

Der 83. Antrag fand seinen Weg durch beschriftete M&Ms zu ihm. Dafür hatte ich sie nur einige Tage vorher in eine Kiste verpackt und ihm ohne Absender zugeschickt. Dank eines Online-Handels konnte ich »#99Mal« und »Marry Me« und »A & N« auf die Süßigkeiten drucken lassen.

Was mich aber nicht zur Ruhe brachte. Es fühlte sich an, als würde ich auf etwas zusteuern, ich wusste nur nicht auf was. Irgendetwas störte mich, etwas Unbegreifliches.

Dabei war die offizielle Feier wunderschön verlaufen. Selbst die heißen Wetterbedingungen hatten nichts an der Freude getrübt und wir hatten unsere Zeugnisse allesamt voller Stolz entgegen genommen.

»Was regt dich denn an heute Abend so auf?«, fragte Daniel jetzt amüsiert und küsste meinen Nacken, als er den Reißverschluss des Kleides schloss. Es war cremeweiß, knielang und besaß am Brustbereich einige Rüschen. Schlicht, elegant und unauffällig.

»Ich bin mir einfach nicht sicher, ob ich heute Abend jemanden sehen möchte.«

Die richtige Wahrheit konnte ich Daniel nicht verraten. Zumindest nicht, ohne ihn zu verärgern. Denn ich wollte nicht feiern, ohne dass Noah dabei war. Es bereitete mir ein zutiefst blödes Gefühl, zu feiern, ohne ihn dabei zu haben. Bisher war er bei jeder Stufe meines Lebens dabei gewesen, seit ich ihn kannte. Dass er jetzt fehlte, fühlte sich seltsam an.

»Du musst zwei Stunden aushalten«, erklärte Daniel und küsste erneut meinen Nacken. Eine Gänsehaut breitete sich über meinen Rücken aus. Schlimmer als zuvor. Klang es sehr abwertend, wenn ich nicht wusste, ob ich das noch schön finden sollte?

»Dann verschwinden wir ins Lotus und feiern mit Leuten, die du magst.«

Das war zumindest der offizielle Plan. Es hatte seine Vorteile, wenn man mit dem Besitzer eines Nachtclubs zusammen war. Ich hatte die ziemlich einmalige Gelegenheit, den Club zu mieten – für umsonst. Nur die Getränke mussten bezahlt werden und das übernahm jeder Gast selbst. Carla hatte schon dafür gesorgt, dass sie möglichst viele Freunde einlud, um auch diese Preise zu reduzieren. Es sollte der perfekte Abend werden, um die leidigen zwei Jahre hinter sich zu lassen.
Und für mich sollte es ein Sprung in die Zukunft werden. Egal was diese bereit hielt.

99 MalWo Geschichten leben. Entdecke jetzt