60. & 61. Mal

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Wie sich herausstellte, trug Noah unter seinem Kostüm lediglich eine Radlerhose und ein Unterhemd, weswegen ich ihn zu sich nach Hause begleitete, um von dort aus in ein anderes Einkaufsparadies zu fahren. Da wir beide den gesamten Tag über Zeit hatten, trödelten wir unterwegs, tranken Kaffee und Milchshakes, flanierten an den schönsten Läden vorbei und in einem Dessous-Laden revanchierte ich mich mit einem Gegen-Antrag.
Ich fiel sogar auf die Knie, wie er es sonst immer tat, und warf mit Dessous um mich, was die Verkäuferin gar nicht gerne sah. Als Noah am Ende jedoch ein »Ja« verlauten ließ, bekamen wir einen 15% Gutschein und die Bitte, den Laden umgehend zu verlassen.

Mir kam die Überlegung, ob wir das alles zur Routine werden ließen, bevor ich den Gedanken wieder von mir stieß. Wir waren eben zwei besondere Menschen, die ein besonderes Hobby hatten. Was war verkehrt daran? Andere beste Freunde gingen zusammen schwimmen oder kegeln oder zum Sport, wir bekamen sogar für unsere Freizeitaktivitäten etwas geschenkt.

»Sag mal, wieso hast du zugestimmt, heute mit mir den Tag zu verbringen?«, fragte ich aus reiner Neugierde und schnappte mir eine Pommes aus Noahs Styroporbox. Es dämmerte bereits, wir liefen gerade zum Auto zurück, das wir außerhalb des Parkhauses hatten stehen lassen, um Geld zu sparen.

Noah hob seine Schale an und hielt sie zu hoch, sodass es mir unmöglich war, mir noch eine Pommes zu klauen.
Blödmann!

Lachend fragte er: »Was meinst du? Ich hab noch einige Tage frei, ich wollte mir dir Zeit verbringen.«

»Ja, schon. Aber du kamst in diesem Hasenkostüm an und ... Keine Ahnung. Es ist, als hättest du einen Radar, wann es mir schlecht geht.«

»Schatz, den habe ich.« Er stupste mich mit seiner Schulter an, ließ seine Arme senken und blieb stehen. Ich schaute verwundert zu ihm zurück. Schatz. Ob er Elaine auch so nannte? Ob er Elaine auch eine Freude machte und spürte, wenn es ihr schlecht ging? Immerhin waren sie jetzt auch seit elf Wochen ein Paar, nicht viel kürzer als ich und Daniel. Wenn ihre Verbindung nur annähernd so stark war ...
Ich schüttelte mich. Ich wollte nicht darüber nachdenken. Konnte nicht. Ich hatte Elaine unter »seltsame Zufälle« verbucht und versucht, das abzuhaken. Ich musste es, vorläufig.

»Was ist mit dir los, Aly? Du hast doch was.«

Ich hasse deine Freundin und halte sie für eine Prostituierte. Reicht das?

»Hattest du Streit mit Daniel? Soll ich ihm ein Gewissen einreden?«

Ich hob die Hand, um eine Haarsträhne aus meinem Gesicht zu streichen, als mir das Zittern meiner Finger auffiel. War ich etwa so abgelenkt, dass ich nicht einmal bemerkte, dass mein Körper automatisch in einen Schutzmodus verfiel?
Wie ich das hasste. Wie ich all das hasste. Dabei wollte ich nicht mehr mit der Vergangenheit konfrontiert werden und erst recht nicht in Form von einer Elaine. Oder einer Alessandra. Oder sonst wie. Ich wollte doch nur ...

»Es ist alles okay«, versicherte ich Noah und fabrizierte scheinbar eine gute Show, denn Noah nickte, holte auf und legte mir einen Arm um die Schulter.

Ich würde wann anders mit ihm sprechen. Wenn ich wusste, ob ich mir die Paranoia nur ausdachte oder es wirklich real war. Ob Elaine wirklich war, wer ich glaubte.

***

»Weißt du, was ich nicht verstehe?«
»Hm?«
»Wieso die Hexe Adam verflucht hat.«

Um Carla anzusehen, die am Kopfende meines Bettes saß und genüsslich Apfelstücke schnitzte und aß, rollte ich mich auf die Seite. Seit einigen Wochen war Carla auf dem Apfel-Trip und aß täglich mindestens drei.
Weil wir beide eine Pause vom Dauer-Lernen brauchten, hatten wir kurzerhand das Osterwochenende zu einem Disney-Marathon gemacht. Gerade war »Die Schöne und das Biest« an der Reihe.

»Er war selbstsüchtig?«, fragte ich und drückte auf die Pause Taste der Fernbedienung. »Hast du den Anfang verpasst?«

Carla rollte mit den Augen. »Lumiére sagt, es sind zehn Jahre vergangen, seitdem sie Möbel sind. Die Rose verwelkt in Adams 21.Lebensjahr. Ich deduziere daraus, dass ...«

Grunzend unterbrach ich sie. »Du deduzierst?«
Ich rollte wieder herum, um den Film weiter zu sehen. Wir hatten fast das Ende erreicht und ich wollte unbedingt noch mit »König der Löwen« beginnen, bevor wir uns etwas zum Essen holen wollten.

Es war eine Ablenkung, die keine Unterbrechungen dudelte. Je länger ich pausierte, desto mehr Gedanken machte ich mir. Umso mehr beschäftigte ich mich mit dem Chaos, das in meinem Kopf herrschte und das konnte ich nicht zulassen. Nicht wenn ich so nah an einem Zusammenbruch stand.

Carla kniff spielerisch wütend die Augen zusammen, warf ihre Apfelüberreste in die Mülltüte neben meinem Bett, in der die Süßigkeitenverpackungen herausquollen und ließ sich umständlich auf den Bauch fallen, um neben mir liegen zu bleiben.

Mir fiel ein Knutschfleck an Carlas Schlüsselbein auf, der erst durch das Verrutschten des Pullovers sichtbar wurde. Grinsend tippte ich an die Haut darunter. Das war auch eine gelungene Form der Ablenkung.
»Hat da jemand Spaß gehabt?«

Wie erwartet wurde Carla knallrot und verdeckte das Mal, ohne eine Antwort zu geben. Dafür stellte sie den Film wieder an und gemeinsam sahen wir zu, wie Gaston gegen das Biest – aka Prinz Adam – kämpfte und letztlich fiel.

Als Kind hatte ich die Vorstellung geliebt, dass Liebe nicht vom Aussehen ausging. Damals glaubte ich noch an die einzig wahre Liebe, an den Prinzen, an die riesige hauseigene Bibliothek. Ich konnte nicht einmal sagen, wann mir diese verträumten Ansichten verloren gegangen waren.

»Also, meine Liebe«, startete ich nach dem Filmende erneut und streckte mich beim Aufstehen. »Wer ist dein Prinz?«

»Kai.«

Überrascht über die schnelle Antwort und den Inhalt eben dieser drehte ich mich um und grinste breiter als es einem Menschen möglich sein sollte. »Nicht – dein – ernst!«

Ich hatte in den letzten Wochen zu viel verpasst, wurde mir klar. Ich war so festgefressen gewesen, in der Entdeckung von Elaines Verbindung zu meiner eigenen Vergangenheit. Meine Freizeit hatte ich damit verbracht, Elaine auf jeglichen sozialen Netzwerken zu stalken, was erschreckend einfach war. Facebook, instagram, snapchat und schon hatte ich auch die E-Mail-Adresse von Noahs Freundin.

Das Klingeln der Tür riss mich aus den Gedanken und ich sah Carla fragend an, die mit den Schultern zuckte.

»Ich wohne hier nicht, vergessen? Hast du Pizza bestellt?«

»Ich hab unten einen Nudelauflauf, der nur in den Ofen muss«, sagte ich auf dem Weg nach unten. Mir fiel nicht ein, wer an der Tür sein könnte. Nathalie war über Ostern zu Yvette gefahren, Noah wollte anfangen zu lernen, Daniel war arbeiten.

»Und?«, fragte Carla neugierig vom Treppengeländer und rannte schon hinter mir her. Sie rutschte beim Anhalten und prallte gegen mich, als ich im selben Augenblick die Tür öffnete. Und von einem Mann in Strumpfhosen begrüßt wurde.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte ich vorsichtig und strich meine Haare hinter beide Ohren.

Der Besucher hob den Kopf, auf dem ein riesiger Zylinder thronte, und fing im selben Moment an zu singen. »Es war eine schöne Maid, die Alessandra«

»Das ist ja lustig!«

Nein. Es war alles andere als das.

Ich schluckte und fasste mir an die Brust, versuchte wieder Luft zu bekommen. Ohne jeden Zweifel wurde das singende Telegramm von Alessandra geschickt. Als Warnung? Als Nachricht? Ich vermochte es nicht zu sagen. Spielte es überhaupt eine Rolle?

»Danke«, sagte ich mit bebender Stimme und nahm die Karte entgegen, die der verrückte Hutmacher mir reichte.

»Vergisst du mich auch nicht?«

»Wen sollst du nicht vergessen?«, fragte Carla neugierig und winkte dem Mann noch hinterher, als er in seinen Wagen stieg. »Ist das ein Spaß von Noah?«

Nicht Noah. Alles andere als Noah. Aber mit genau ihm musste ich sprechen, es führte kein Weg daran vorbei. Denn wenn er von Elaines Vergangenheit wusste, konnte er selbst reagieren. Diese Chance wollte ich ihm lassen. Er musste wissen, wer Elaine war. Von wem sie geschickt worden war. Er musste wissen, in welcher Gefahr wir alle schwebten.

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