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Noah blieb ungewohnt schüchtern und zurückhaltend. Für gewöhnlich störten ihn Fremde nicht, denn für ihn waren das Freunde, die man nur noch nicht kannte. Bei Emma und Jack sah das offensichtlich anders aus. Was ich ja zum Teil auch verstehen konnte. Menschen, die uns bei einem wichtigen Gespräch unterbrochen hatten, wären mir sicher auch suspekt vorgekommen. Wenn ich an seiner Stelle wäre.

»Woher kennst du die beiden?«, fragte er, als es Zeit für ihn war, zur Arbeit aufzubrechen.

Ich wischte mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und lächelte. Vermutlich war es erste ehrliche Lächeln des Tages. »Ich kenne nur Emma. Wir sind alte Freunde.«

»Alte Freunde? Wir sind alte Freunde. Von ihr hast du nie etwas erzählt. Und wann willst du mir alles über deine Mutter sagen? Wie hat sie überlebt? Wieso hat sie dich nicht großgezogen?«

Weil Emma zu einem Teil meiner Vergangenheit gehörte, den ich ihm nach wie vor nicht offenbart hatte und ich deswegen schweigen musste.

Verdammter Mist, alles nur Wiederholungen. In letzter Zeit häuften sich die Augenblicke, wenn ich mir wünschte, Noah früher in alles eingeweiht zu haben. All das half jedoch auch nicht, die jetzige Situation zu verbessern.
Weil mir nichts besseres einfiel, erklärte ich Noah, dass Emma eine alte Kundin von Yvette war. Aus Zeiten, in denen ich noch bei Nat und Yvette in der gemeinsamen Wohnung untergekommen war.

Ich musste die Geschichte glaubwürdig herüber gebracht haben, denn Noah gab sich damit zufrieden, gab mir einen flüchtigen Wangenkuss und verabschiedete sich.

Eine weitere Lüge auf meinem Konto. Doch darum würde ich mich wann anders kümmern. Jetzt war es Zeit, die Show abzustellen und Klartext zu reden.

»Du hättest nicht herkommen brauchen«, sagte ich erneut und goss Emma Wasser nach. »Ich hatte gedacht, dass du etwas von Portugal aus erledigen kannst.«

»Bereust du es nicht langsam, dass du deine alte Nummer behalten willst?«, raunte Jack in Emmas Ohr, laut genug, damit ich es hören konnte.

Emma hingegen trank einen Schluck und sah sich erneut in dem Wohnzimmer um. Was sagte der Einrichtungsstil wohl über uns aus? Über mich vermutlich nicht viel, hatte ich keinen Einfluss darauf genommen. Doch vermutlich bemerkte Emma genau das und zog daraus ihre Schlüsse.

»Erst wollte ich nicht herfliegen«, gestand Emma und lehnte sich langsam auf der Couch zurück. »Ich habe mit einigen alten Bekannten gesprochen, Jack hat ein bisschen geschnüffelt und dann fiel mir eine Information entgegen, die dich auch interessieren könnte.«

»Was meinst du damit?«

Jack, der Emmas Hand fest umschlossen hielt, richtete sich auf und ich sah zu ihm hinüber. Ich wusste nicht, was ich von dem fremden Mann halten sollte, der in meinem Wohnzimmer saß. Er schien nett, aber auch verbissen. Keine Eigenschaft, die ich an Menschen wertschätzte.

»Sie ist sauber. Alessandra Röber hat sich seit ihrer Haftentlassung von vor fünf Monaten nichts zu Schulden kommen lassen. Sie meldet sich bei ihrem Bewährungshelfer, hat sogar einen Minijob in einer Tierhandlung bekommen und hält sich an die Auflagen.«

»Und? Was wollt ihr mit damit sagen?«

»Kann es sein, dass du einen Geist jagst?«, fragte Emma vorsichtig und beugte sich vor. Ihre Haare fielen ihr ins Gesicht und sie presste die Lippen fest aufeinander. Der Ausdruck verängstigte mich mehr, als es Alessandra je hätte tun können.
»Ich weiß, wie das ist, Alyssa. Ich bin jahrelang vor Geistern davongelaufen, das ist nur natürlich. Nach dem, was du erlebt hast.«

Ich sprang auf. Wollte den Tisch umwerfen, den Sessel, die Glasscheibe des Fensters zertrümmern. Diese impulsive Wut in mir drin war da, ich spürte sie jeden Tag der letzten fünf Jahre. Nie gab ich nach, selten ließ ich zu, überhaupt wütend zu werden. Es gab Grenzen, die ich nicht überschreiten durfte.

Das war es, was Alessandra immer in mir gesehen hatte. Der Grund, wieso ich so lange bei meiner Mutter geblieben war. Die Schattenseite meiner Seele.
Wie die Mutter, so die Tochter.

»Du willst mir sagen, dass ich es mir einbilde?«, fragte ich und biss so heftig auf die Innenseiten meiner Wangen, dass ich Blut schmeckte. »Dass ich durchdrehe? Gespenster sehe?«

Emma blieb scheinbar unbeeindruckt. »Sie hat nicht einmal Kontakt zu Jasper. Vielleicht sind das alles nur Zufälle.«

»Zufälle? Wie erklärst du dir dann die Briefe und die Geschenke von ihr?«

Wieder war Jack es, der zuerst auf die unbequeme Frage antwortete. »Vielleicht organisiert dieser Jasper etwas, um dich zu verunsichern. Sie hat ihn in die Scheiße geritten, vielleicht hofft er, dass Alessandra wieder in den Knast kommt, wenn sie verdächtigt wird, sich dir unangemessen zu nähern.«

Es klang richtig und logisch. Ich musste zugeben, dass auch ich für eine Sekunde daran gedacht hatte, dass all das nicht auf Alessandras Mist gewachsen war. Aber es machte mehr Sinn, dass es meine Mutter war, als jede andere Erklärung.

»Ich bilde mir das nicht ein«, beteuerte ich abermals und kam mir vor wie in einer dummen Reality-Show. Wer waren die beiden, dass sie sich anmaßten, darüber zu urteilen? Mir einen Verfolgungswahn anzudichten? Emma hatte selbst genug Probleme, so wie ich sie kannte. Und ihr plötzliches Auswandern auf eine portugiesische Insel war auch suspekt. Was bildete sie sich ein, in mein Haus zu kommen und mir zu sagen, dass ich mir etwas einbildete?

»Das sagt doch auch keiner«, fing Emma erneut an. »Ich gehe jetzt eine rauchen und dann reden wir weiter, ja?«

Ich nickte nur. Zu einer ausgesprochenen Antwort war ich nicht in der Lage. Zu tief saß der Schmerz, dass ausgerechnet Emma solche Worte in den Mund nahm und behauptete, dass mein größter »Feind« nicht real war. Dass nicht Alessandra hinter all dem steckte. Das war Schwachsinn. Meine Mutter stellte sich einfach nur zu schlau an, das hatte sie früher schon geschafft. Obwohl sie mindestens genauso viel Schuld an »Alice in the Underground« trug, hatte Alessandra es bewerkstelligt, dass ihr Mann Jasper dafür die höhere Strafe abbekam. Sich selbst hatte sie als armes Frauchen dargestellt, etwas, das sie absolut nicht war.

Natürlich schaffte sie es jetzt wieder, jeglichen Verdacht von sich zu lenken.

Als ich sah, dass Jack sitzen blieb und mich neugierig und unverhohlen musterte, stand auch ich auf, um hinaus zu gehen.

»Früher hast du High Heels getragen.« Ich starrte auf Emmas praktische Turnschuhe hinunter. Was wohl mit ihrem Bein geschehen war?

»Früher warst du ein verpickelter Teeny.« Emma stieß den Rauch in Ringen aus. »Dinge ändern sich.«

»Manches ändert sich nicht«, murmelte ich und meinte das eher zu mir selbst. Noah änderte sich nicht. Nie. Er war stets der fürsorgliche große Bruder, den ich immer gewollt hatte. Er war mehr als das.

»Hör zu, Kleines. Ich werde sehen, was ich vor Ort herausfinde. Ich kann dabei in meine Wohnung und ein paar alte Freunde sehen, also hat der Besuch in Deutschland viele gute Seiten. Egal wer dahinter steckt, wir bekommen es heraus.«
Emma drehte sich zu mir und stützte sich schwer auf ihrem Gehstock auf. »Rede endlich mit deinem besten Freund, aber lass Elaine aus dem Spiel. Es kann auch alles nur ein Zufall sein. Und du willst doch nicht, dass er dich hasst?«

Alles, nur das nicht.

99 MalWo Geschichten leben. Entdecke jetzt