-

2.6K 236 14
                                    

Die Verkäuferinnen applaudierten und eine lief nach hinten, um eine Flasche Sekt zu holen, die noch von ihrer Weihnachtsfeier übrig war.

Die Menschen waren so großzügig, wenn sie Zeugen von Glücksmomenten Anderer wurden. Es überraschte mich jedes Mal aufs Neue. Und es bescherte mir ein schlechtes Gewissen. Manchmal. Dabei wechselten Noah und ich uns ab mit dem Trinkgeld geben. Je nach absolvierter Show und erhaltenem »Preis« gaben wir unterschiedlich viel in die Trinkgeldgläser, die in den meisten Cafés und Restaurants ausstanden.

Wir waren frech, aber ein bisschen wollten wir zurückgeben.

Ein Ehepaar, vielleicht Ende Zwanzig und noch nicht sehr lange verheiratet, trat zu uns und fing an, über mögliche Hochzeitslocations zu reden. Ich musste mich anstrengen, nicht mit den Augen zu rollen.

»Schatz, denk an die Zwillinge«, tadelte Noah, als ich dankbar lächelnd ein Sektglas annahm und es ihm sofort in die Hand drückte.

Mir hätte etwas anderes einfallen müssen. Kein Alkohol für mich.

Wir verließen den Laden erst eine Dreiviertelstunde später mit einem Einkaufsgutschein in Höhe von 50€, den Noah sofort für eine Anzugweste ausgegeben hatte. Oder eher ich, die das reduzierte Ding im Schaufenster gesehen hatte und ihn zwang, noch einmal umzukehren.

Erschöpft, aber glücklich, kehrten wir kurz darauf in eines unserer Stammlokale ein. Ein Ort, an dem wir noch niemals einen Versuch gestartet hatten und auch nicht würden. Dafür hatte ich die Liste. Es gab Plätze, die blieben tabu, selbst wenn ich eine verheerende Ausnahme mit dem Weihnachtsmarkt gemacht hatte.

»Also«, fing ich an und starrte Noah über den Rand meines Kaffees hinweg an. Er blätterte lustlos in einer Zeitschrift, die in dem Lokal auslagen. »Du kannst gar nicht so sauer auf mich sein, wenn du so überzeugend mitgespielt hast.«

»Wer sagt, dass ich sauer bin?«, gab er zurück, ohne mich anzusehen.

Neuer Versuch.

»Bring Elaine doch mit zur Party. Wird bestimmt lustig.«

Er schnaufte. »Ich habe nicht einmal zugesagt.« Noah schlug die Zeitung zu, legte sie beiseite und richtete seinen Blick auf mich. »Aber ja, ich komme. Nein, ich bringe Elaine nicht mit. Ich weiß noch nicht, ob das etwas wird und Silvester möchte ich eine mögliche Freundin nicht sehen. Vor allem nicht in dem Ding.« Er raschelte mit der Plastiktüte von seinem Einkauf und ich versuchte ihm gegen sein Schienbein zu treten.

»Blödmann! Frauen stehen auf den Hemd-und-Westen-Look!«

Das typische Noah-Grinsen kehrte zurück, als er sagte: »Und du musst das wissen? Trägt dein Freund so eine Kombination?«

Sofort errötete ich und wusste nicht einmal aus welchem Grund. Vielleicht weil mir das Wort »Freund« in Verbindung mit Daniel seltsam vorkam. Dabei war er doch genau das. Oder nicht? Ich hatte noch keine Chance gehabt, das ausgiebiger mit Carla oder Nathalie zu besprechen. Und ein bisschen weibliches Analysieren war hier angebracht.

»Lenk jetzt nicht ab«, hielt ich dagegen und trank einen ausgiebigen Schluck Milchkaffees. Zarah, die Besitzerin des Lokals, musste eine Geheimrezeptur haben. Nirgendwo sonst schmeckte der Kaffee so vollmundig und die Cupcakes waren zum Wegschmelzen. Die Besonderheit an dem ehemaligen Café und jetzigen Bistro war, dass es vierundzwanzig Stunden geöffnet hatte. Es gab keine Schließzeiten, nur in den zwei Wochen Urlaub jährlich und an den amtlichen Feiertagen.

Noah gab sich seufzend geschlagen und lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Elaine habe ich an der FH kennengelernt. Sie ist zwar älter als ich, aber ein Semester unter mir. Wir kamen über die Dozenten ins Gespräch. Sie hat mich bei facebook gefunden und wir haben uns spontan getroffen. Daraus wurde ein zweites Treffen.«

Ich zog die Augenbrauen hoch. »Ist sie es?«

»Was?« Er schien sie nicht zu verstehen.

»Na, deine mgL?«

Die Frage brachte Noah zum Grunzen. Dabei war es berechtigt, dass ich mich wunderte, ob diese geheimnisvolle Elaine, von der ich noch nie etwas gehört hatte, seine mögliche große Liebe war. Immerhin hatte Noah bei jeder seiner Partnerinnen nur dieses Thema. Die Wahrscheinlichkeit, dass er und sie Seelenverwandte waren. Der ewige Romantiker eben.

»Sollte sie es sein, erfährst du es Erste«, sagte Noah nach einer kleinen Pause und hob seine Zeitung wieder hoch.

»Wirst du mir erzählen, was an Weihnachten los war?«, startete ich einen letzten, verzweifelten Versuch und ahnte schon, dass ich erneut auf taube Ohren stoßen würde. Trotzdem musste ich es versuchen.

»Manchmal haben selbst wir Geheimnisse, Al. Das ist normal. Du bist bestimmt auch nicht immer ehrlich zu mir.«

Ich wollte protestieren, öffnete sogar schon den Mund, als mir klar wurde, dass ich ihn nur belügen wollte. Er hatte recht. Ich war nicht immer so freizügig mit meinen Geheimnissen, wie ich es von ihm verlangte. Und das hatte gute Gründe, auch wenn er diese nicht nachvollziehen würde. Niemand konnte das.

***

»Es war nicht meine Entscheidung, dass du hier bist! Du hast mich gesucht und gefunden. Oder eher finden lassen. Wie viel hat es dich gekostet?«

Sie legte den Kopf schief, während ich nur da saß und die Tränen runterschluckte, die sich ihren Weg nach oben bahnten.

Was hatte ich nur getan? Wie hatte ich das je für eine gute Idee halten können? Die dreistündige Fahrt mit dem Zug. Das Herumirren in der Stadt. Das gruslige Haus, dessen Innerstes nicht viel einladender war.

Sie seufzte und ich hörte, wie ein Stuhl zur Seite geschoben wurde. Einen langen, viel zu unendlich erscheinenden Moment geschah nichts. Es war auch nichts zu hören, kein leises Radio, kein Summen vom Kühlschrank, keine Geräusche von außen, so wie ich das gewohnt war. Es herrschte absolute Stille.

»Deine ... Cousine wird sicher nicht erlauben, dass du jeden Tag hierher fährst. Zumal der Weg zu weit ist.«

»Ich könnte eine Studienfahrt erfinden«, sprang ich umgehend zur Hilfe und wagte es mich noch nicht, den Kopf zu heben. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich lernte, unterwürfig zu handeln und im Anbetracht, wer mit mir im Raum saß, war das vielleicht auch keine dumme Idee. Man musste wissen, wann man einen Alpha vor sich hatte und wie man sich als Beta benehmen musste.

»Eine Woche ist kurz. Sehr kurz. Nein, wenn du wirklich hier bleiben willst, muss es etwas für länger sein. Was hältst du von einem halben Jahr? Es müsste einiges arrangiert werden und du müsstest viel lügen, aber ein halbes Jahr sollte genug Zeit sein, um ...«

Ich war vom Stuhl aufgesprungen und auf sie zugekommen. Zaghaft hob ich den Blick und schaute in die blausten Augen, die ich je gesehen hatte. So intensiv und strahlend, dass ich nicht lange hineinsehen konnten.

Wie ein Strudel im Meer. Ziehen sie dich in den Bann.

»Du kannst deiner Cousine natürlich die Wahrheit sagen.«

»Sie würde es nicht verstehen«, sagte ich und reckte weiter das Kinn. »Sie weiß nicht einmal, dass ich heute hier bin.«

»Eine kleine Rebellin. Könnte mir gefallen, Lessa.«

Noch nie hatte mich jemand so genannt. Und es gefiel mir. Gab mir das Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Dass ich gerade im Begriff war, etwas Abscheuliches zu tun und dabei Nathalie anzulügen, kam mir gar nicht so schlimm vor. Immerhin tat ich ja nichts Verbotenes. Ich wollte sechs Monate weg von zu Hause verbringen. Die Welt erkunden. Sozusagen. Und dabei jemanden kennenlernen, der mir viel zu lange verwehrt geblieben war. Daran war nichts verkehrt. Das rechtfertigte jede Lüge, die ich erzählen würde. Denn niemand würde mich verstehen. Das tat nie jemand.

99 MalWo Geschichten leben. Entdecke jetzt